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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen
Autoren: Simone Keil
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Traumländer zu bejagen, und doch überzog seine Haut ein kalter Schweißfilm und in seinem Magen machte sich ein Gefühl breit, das er niemals wieder spüren wollte. Furcht. Er hatte nicht erwartet, dass es so sein würde. So beängstigend, so wundervoll, so erregend. Ein Beben schüttelte seinen Körper und er stemmte sich mit letzter Kraft gegen die Strömung, wand und sträubte sich, und wurde hineingesaugt in die atemlose Tiefe. Und dann fiel er und fiel … und öffnete die Augen in einem tonlosen Traum aus Farben und symmetrischen Figuren.
    Pulsierende Quadrate begrenzten einen kreisrunden Raum, der sich konvulsiv zusammenzog und erweiterte, als wäre er ein schlagendes Herz. In seiner Mitte spannten sich Netze zwischen schwarzen Kreuzen, in denen sich etwas bewegte. Etwas Lebendiges. Conchúbar wich einen Schritt zurück und stieß an eine Begrenzung. Eine Begrenzung, die zu warm war, um künstlich zu sein, und bevor er sich umdrehen konnte, umschlangen ihn Linien aus ultraviolettem Licht, banden seine Beine, seine Arme, schmiegten sich zärtlich an seinen Körper und hielten ihn in vollkommener Bewegungslosigkeit. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, brachte aber keinen Laut hervor. Und dann kroch das Etwas, das lebendige Unbenennbare, aus den Netzen auf ihn zu.
    Seine Beine bewegten sich schnell, berührten kaum den Boden, und doch dauerte es eine ganze Ewigkeit, bis Conchúbar den Atem des Etwas auf seiner Haut spürte.
    „Du bist da“, sagte es. Aber die Worte kamen nicht aus seiner Mundspalte, es sprach sie direkt in Conchúbars Kopf, und die Zangen, die aus den Mundwinkeln ragten wie Reißzähne klapperten dabei, aber auch das Geräusch entstand tief in Conchúbars Schädel.
    Der Körper des Etwas war mit dichtem schwarzem Haar überzogen, das an seinem Bauch verfilzte Knoten bildete. Knoten? Die Knoten bewegten sich. Sie wanden und drehten sich und ihre Augäpfel traten weit aus den Höhlen hervor.
    Conchúbar schloss die Lider, er wollte nicht seine Spiegelbilder in den wahnsinnigen Augen sehen, wollte nicht sehen, wie seine Gesichtszüge in Angst erstarrten, tausend und abertausendfach verdoppelt. Das Etwas lachte und das Klackern der Zangen schwoll zu einem Rauschen an. „Hast du Angst?“, flüsterte es. „Recht so. Fürchte dich, Jahim. Furcht ist Stärke. Furcht treibt die fließenden Wasser den Meeren ins offene Maul, Furcht hält die Welten an ihrem Platz. Furcht ist Leben.“
    Conchúbars Muskeln schmerzten, die Lichtlinien pressten seinen Körper so fest zusammen, dass er kaum atmen konnte. „Was willst du von mir?“ Seine eigene Stimme erschien ihm fremd, ihr Echo hallte in seinem Kopf nach, bis es abrupt verstummte.
    „Nichts“, antwortete das Etwas. „Ich will gar nichts. Geh, bejage die Traumwelten, kleiner Jahim. Geh und fürchte dich.“
    Die Linien gaben Conchúbars Körper frei und erloschen. Alles um ihn herum erlosch, ertrank in absoluter Schwärze, das Zangenklackern des Etwas füllte seinen Kopf; kein Platz für andere Gedanken, kein Platz für nichts. Nur Klackern und Klackern und Furcht. Und dann wurde er hinabgesaugt und fiel noch tiefer hinein.
     
    #
    Zitternd und schluchzend klammerte sich Conchúbar an die dürren Äste eines Feigenbaums. So hatte er sich die Traumländer nicht ausgemalt. Wie hätte er das auch tun können? Die Träume gehörten den Menschen, es waren ihre Fantasien, ihre Wünsche, Hoffnungen und Ängste, die sich dort manifestierten.
    Hinter einem grasbewachsenen Hügel ging die Sonne unter und Schatten breiteten sich über das Land. Über von samtigem Blau überzogene Wiesen und Felder, über Pflanzen, die metallisch schimmerten, bevor sie ermatteten und ebenso blau erschienen wie alles andere. Ein warmer Wind wehte Blätter von den Bäumen und häufte sie vor einer Mauer an. Eine Mauer, die so hoch war, dass es Conchúbar vorkam, als ragte sie bis in den Himmel und stieße an den Wolken an.
    Leise Töne drangen von dem unsichtbaren Ort jenseits der Mauer hervor und Conchúbar betastete das, was er aus der Entfernung für gewöhnlichen Stein gehalten hatte. Aber die Mauer war kälter als Eis, kälter als alles, was er bisher berührt oder gespürt hatte. Die Töne wurden lauter, klagender; ein monotoner Singsang, wie von einer Kinderstimme. Er breitete die Flügel aus und ließ sich vom Wind in die Höhe tragen, höher und höher, bis die Luft frostig und dünn wurde und in seinen Lungen brannte, aber noch immer konnte er den oberen Rand der
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