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Leichte Turbulenzen - Roman

Leichte Turbulenzen - Roman

Titel: Leichte Turbulenzen - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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1.
    Ivy war nicht mehr ansprechbar. In ein paar Augenblicken würde sie nämlich sterben. Sie saß hinten auf der Rückbank des silbergrauen Volvo-Kombis, der von ihrem Schwager Peer Richtung Flughafen gelenkt wurde. Die Anzeigentafel mit den blinkenden Lichtern der Ankunfts- und Abflugzeiten flog vorbei. Dahinter hing der schwarzblaue Abendhimmel, in den die Flugzeuge steil nach oben schossen oder aus dem sie im Sinkflug auftauchten. Es war ihr unerklärlich, wie sich diese schweren Maschinen wie Pfeile von der Erde wegbewegten. Wenn man einen Apfel in die Luft warf, kam er ja auch gleich wieder herunter. Sicher, er verfügte weder über Cockpit noch Flügel, das war in Ivys Augen aber auch der einzige Unterschied. Mal abgesehen von der Technik, die ja überhaupt die größte Gefahr für ein Flugzeug darstellte. Bekanntlich reichte es, wenn eins der vielen Kabel zu schmoren anfing. Schon brannte das ganze Flugzeug lichterloh, und am Ende explodierte der Kerosintank. Ivy atmete tief ein. Sie hätte einfach zu Hause in London bleiben und ihren fünfunddreißigsten Geburtstag mit Alice im Sun in Splendour mit einem Guinness begehen sollen, anstatt sich in Berlin den mitleidigen Blicken ihrer Familie auszusetzen. Ivy spürte ein Streicheln auf ihrer Hand, sie drehte ihren Kopf zur Seite und blickte in das niedliche Gesicht ihrer vierjährigen Nichte. Lucy lächelte, wobei sie ihre auseinander stehenden Milchzähne entblößte. Ihr hellblonder Pony war viel zu kurz geraten. Nathalie, Ivys ältere Schwester, hatte ihn ihr gestern vor dem Zubettgehen mit der Nagelschere gestutzt, damit die Eltern in der Kita »Rasselbande« nicht dachten, dass sie ihre Tochter verwahrlosen ließ, und anfingen, sich untereinander mit Mutmaßungen anzustacheln, aus was für heiklen Verhältnissen Lucy kam. Das war Nathalies größte Sorge: dass die KitaEltern schlecht über sie dachten. Sie saß vorne auf dem Beifahrersitz, neben Peer, der nur auf Nachfrage einen Laut von sich gab.
    Gestern Abend, als Nathalie mit Lucy im Bad verschwunden war, hatte Ivy sich in der Küche mit ihm über die Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes unterhalten wollen. Doch anstatt sie dezidiert von der absoluten Ungefährlichkeit des Fliegens zu überzeugen, hatte er eilig einen eingehenden Anruf auf seinem Handy weggedrückt und abwesend gemeint: »Mach dir keine Sorgen! Wir müssen alle mal sterben.«
    Das Dröhnen der Turbinen breitete sich vibrierend über das flache Flughafengebäude und in Ivys Zellen aus. Sie sah Lucys rote Lackschühchen, den dunkelblauen Faltenrock, die weinrote Daunenjacke. Ihre Nichte saß sicher und mit leuchtenden Augen im gepanzerten Kindersitz. Gleich würde Ivy aussteigen und alleine weitergehen müssen. Wenigstens hatte Peer es am Morgen geschafft, sie online einzuchecken, und zwar in Reihe 28, auf einen Gangplatz. Von da aus konnte sie sich leicht zur Stewardess umsehen, um an ihrem Gesichtsausdruck sofort ablesen zu können, wenn etwas mit dem Geräusch der Turbinen nicht in Ordnung war. Lucy drehte an Ivys Ring herum. »Tante Ivy, warum hast du keine Kinder?«
    Was sollte das denn jetzt? Ihre Nichte blinzelte interessiert, als wüsste sie bereits die niederschmetternde Antwort. Ivy zuckte mit den Schultern. »Weil mich kein Mann will.«
    Augenblicklich drehte sich Nathalie, so gut es mit dem Anschnallgurt über der Schulter ging, zu ihnen um. »Ivy-Schatz! Erzähl dem Kind doch nicht solches Zeug. Du bist es doch, die keinen Mann will.«
    »Ach ja?« Ivy blickte ihre Schwester erstaunt an. »Wer sagt das denn?«
    »Würdest du einen wollen, hättest du einen. Du hast Angst, dich zu binden. Das ist alles.«
    Ivy hatte gerade keine Kapazitäten frei, zum zehnten Mal an diesem Wochenende mit ihrer Schwester über ihre angebliche Bindungsunfähigkeit zu diskutieren. »Ich hab überhaupt keine Angst, mich zu binden.« Und zu Lucy gewandt. »Ich hab nur noch nicht den richtigen Mann gefunden.«
    Natürlich hätte sie auch sagen können: »So einen wie deinen stummen Papa würde ich nicht für eine Million heiraten.«
    Andererseits: Ohne Peer gäbe es ihre Nichte gar nicht. Dieser Mann hatte etwas geschafft, was sie bisher nicht hinbekommen hatte und – so wie es aussah – auch nicht mehr hinbekommen würde: Er hatte diesem süßen Wurm das Leben geschenkt. Vielleicht nahm Ivy sich zu wichtig. Womöglich war sie aber auch nur anspruchsvoller als ihre Schwester. Nathalie schien die Vorstellung, sich für diesen einen Mann
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