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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen
Autoren: H Coben
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breit lächelnd. Der Ken auf dem Foto sah aus wie einer dieser Privilegierten (was er nicht war), die mit jungenhaftem Charme (davon hatte er ein wenig) und einem Treuhandkonto (hatte er nicht) locker das Leben genossen.

    Ich war in einer dieser Sendungen aufgetaucht. Ein Produzent hatte Kontakt zu mir aufgenommen – das war noch ziemlich am Anfang der Berichterstattung gewesen – und behauptet, er wollte »beide Positionen fair nebeneinander stellen«. Er sagte, sie hätten genug Leute, die meinen Bruder lynchen wollten. Um »die Ausgewogenheit« zu gewährleisten, bräuchten sie unbedingt jemanden, der den Leuten ein Bild des »echten Ken« vermitteln könnte.
    Ich bin drauf reingefallen.
    Eine blond gesträhnte Nachrichtensprecherin mit angenehmem Auftreten hatte mich eine halbe Stunde interviewt. Es hatte mir sogar Spaß gemacht. Ich hatte mir etwas von der Seele geredet. Sie hatte sich bedankt und mich hinausbegleitet. In der Sendung hatten sie dann nur einen winzigen Ausschnitt gebracht, und den auch noch ohne die dazugehörige Frage (»Aber Sie wollen doch nicht sagen, dass Ihr Bruder perfekt war? Sie wollen uns nicht erzählen, dass er ein Heiliger war, oder?«), und sie untermalten meine Worte mit dramatischer Musik, als ich in einer so großen Totale, dass man jede Pore erkennen konnte, antwortete: »Ken war kein Heiliger, Diane.«
    Das war jedenfalls die offizielle Version dessen, was damals geschehen war.
    Ich habe es nie geglaubt. Ich will nicht sagen, dass es absolut ausgeschlossen ist. Aber ich glaube an ein viel wahrscheinlicheres Szenario: Meiner Ansicht nach ist mein Bruder tot – und zwar seit elf Jahren.
    Vor allem war auch meine Mutter immer der Ansicht, dass Ken tot ist. Sie war sich sicher. Für sie gab es keinen Zweifel. Ihr Sohn war kein Mörder. Ihr Sohn war ein Opfer.
    »Er lebt … Er hat’s nicht getan.«
    Die Haustür der Millers wurde geöffnet. Mr Miller trat heraus. Er schob seine Brille auf die Stirn. Dann stemmte er in einer
jämmerlichen Kopie der Supermann-Pose die Fäuste in die Hüften.
    »Mach, dass du hier wegkommst, Will«, sagte Mr Miller zu mir.
    Und das tat ich dann auch.

    Der nächste Schock traf mich eine Stunde später.
    Ich war mit Sheila oben im Schlafzimmer meiner Eltern. Solange ich mich erinnern kann, haben in diesem Zimmer dieselben verblichenen grauen Möbel mit der blauen Zierleiste gestanden. Wir saßen auf dem Doppelbett mit der durchgelegenen Matratze. Die persönlichsten Habseligkeiten meiner Mutter – das, was sie in ihren Nachttisch-Schubladen aufbewahrte – hatten wir auf der Bettdecke verteilt. Mein Vater starrte unten weiter trotzig aus dem Erkerfenster.
    Ich weiß nicht, warum ich mir die Dinge ansehen wollte, die für meine Mutter so bedeutungsvoll gewesen waren, dass sie sie so nah bei sich aufbewahrt hatte. Ich wusste, dass es mir wehtun würde. Es besteht eine seltsame Verbindung zwischen Trost und dem Schmerz, den man sich selbst zufügt, das ist ein Zugang zur Trauerarbeit, bei dem man allerdings mit dem Feuer spielt. Ich glaube, ich konnte einfach nicht anders.
    Ich betrachtete Sheilas hübsches Gesicht – sie hatte den Kopf etwas schief gelegt und konzentrierte sich mit gesenktem Blick auf die Gegenstände – und spürte, wie mir das Herz überging. Es mag eigenartig klingen, aber ich konnte Sheila stundenlang ansehen. Es war nicht allein ihre Schönheit – eine Schönheit im klassischen Sinne war sie sowieso nicht, ihre Züge waren alle etwas verrutscht, was entweder ererbt oder, wie ich eher vermutete, auf ihre undurchsichtige Vergangenheit zurückzuführen war –, aber ihr Gesicht war so lebhaft, so wissbegierig
und dabei so zart, als könnte ein einziger weiterer Schlag sie irreparabel zerstören. Ich wollte – entschuldigen Sie, ich kann nicht anders – ihr Held sein.
    Ohne aufzublicken lächelte Sheila kurz und sagte: »Hör auf damit.«
    »Ich mach doch gar nichts.«
    Schließlich sah sie mich an und bemerkte meinen Gesichtsausdruck. »Was ist?«, fragte sie.
    Ich zuckte die Achseln. »Du bist meine Welt«, sagte ich nur.
    »Du bist auch ’ne ziemlich heiße Nummer.«
    »Ja«, sagte ich. »Ja, stimmt natürlich.«
    Sie tat kurz, als wollte sie mich schlagen. »Du weißt, dass ich dich liebe.«
    »Alles andere wäre auch unerklärlich.«
    Sie verdrehte die Augen. Dann konzentrierte sie sich wieder auf die Sachen auf dem Bett. Ihr Gesicht wurde still.
    »Woran denkst du?«, fragte ich.
    »An deine Mutter«, sagte
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