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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen
Autoren: H Coben
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Sheila lächelnd. »Ich mochte sie wirklich gern.«
    »Schade, dass du sie nicht vorher schon gekannt hast.«
    »Finde ich auch.«
    Wir fingen an, die eingeschweißten vergilbten Zeitungsausschnitte durchzusehen. Geburtsanzeigen – Melissas, Kens, meine. Die Artikel über Kens Erfolge im Tennis. Seine Trophäen, die vielen winzigen Bronzefiguren in der Aufschlagbewegung, standen immer noch in seinem alten Schlafzimmer. Auch ein paar Fotos dazwischen, meist ältere – von vor dem Mord. Sunny. Meine Mutter hatte diesen Spitznamen schon seit ihrer Kindheit gehabt. Er passte zu ihr. Ich fand ein Foto von ihr als Vorsitzende des Elternbeirats. Ich weiß nicht, was sie da gerade machte, aber sie stand mit einem komischen Hut auf einer Bühne, und die anderen Mütter bogen sich vor Lachen. Auf
einem anderen Bild war sie auf dem Schul-Jahrmarkt. Sie trug ein Clownskostüm. Sunny war bei meinen Freunden die beliebteste Erwachsene gewesen. Alle freuten sich, wenn sie bei der Fahrgemeinschaft zur Schule an der Reihe war. Und das Klassenpicknick sollte auch immer bei uns zu Haus stattfinden. Sunny war eine coole Mutter, die einem trotzdem nicht auf die Nerven ging. Sie war gerade seltsam genug, vielleicht sogar ein bisschen verrückt, so dass man nie wusste, was sie als Nächstes vorhatte. Wenn meine Mutter in der Nähe war, lag immer eine gewisse Spannung in der Luft – ein Knistern, wenn man so will.
    Wir beschäftigten uns über zwei Stunden lang mit den Sachen. Sheila ließ sich Zeit und betrachtete jedes Bild nachdenklich. Dann musterte sie eins genauer. Sie kniff die Augen zusammen und fragte: »Wer ist das?«
    Sie reichte mir das Foto. Links stand meine Mutter in einem fast schon obszönen gelben Bikini; ich würde sagen 1972er-Stil, und sehr kurvenreich. Sie hatte den Arm um einen fröhlich lächelnden kleinen Mann mit dunklem Schnurrbart gelegt.
    »König Hussein«, sagte ich.
    »Wie bitte?«
    Ich nickte.
    »Der mit dem Königreich Jordanien?«
    »Ja. Mom und Dad sind ihm im Fontainebleau in Miami begegnet.«
    »Und?«
    »Und Mom hat ihn gefragt, ob er sich mit ihr fotografieren lässt.«
    »Das ist nicht dein Ernst.«
    »Den Beweis hältst du in der Hand.«
    »Hatte er keine Leibwächter oder so?«
    »Vielleicht sah sie nicht aus, als wäre sie bewaffnet.«
    Sheila lachte. Ich weiß noch, wie Mom mir von dem Zusammentreffen
erzählt hatte. Wie sie sich neben König Hussein in Pose gestellt hatte, wie Dads Fotoapparat nicht funktioniert hatte, und wie der vor sich hin gemurmelt und hektisch daran herumgefummelt hatte, während sie ihn mit Blicken zur Eile drängte und der König geduldig daneben stand, und wie sein Sicherheitschef schließlich die Kamera geprüft, den Fehler behoben und sie meinem Dad zurückgegeben hatte.
    Meine Mutter. Sunny.
    »Sie war bezaubernd«, sagte Sheila.
    Es klingt vielleicht wie ein Klischee, wenn ich behaupte, dass ein Teil von ihr starb, als Julie Millers Leiche entdeckt wurde, doch das Interessante an Klischees ist, dass sie oft hundertprozentig zutreffen. Das Knistern, das meine Mutter umgeben hatte, ließ nach und verstummte schließlich ganz. Als sie von dem Mord hörte, bekam sie keine Wutanfälle oder weinte hysterisch. Vielleicht wäre das besser gewesen. Meine vorher so impulsive Mutter war plötzlich beängstigend ausgeglichen. Ihr ganzes Verhalten wurde flach, monoton – leidenschaftslos ist wohl das beste Wort –, was bei einem Menschen wie ihr quälender anzusehen war als die absurdesten Totenklagen.
    Es klingelte. Ich sah aus dem Schlafzimmerfenster und erkannte den Lieferwagen von Eppes-Feinkost. Fast Food für Trauernde. In seiner Fürsorglichkeit hatte Dad viel zu viele kalte Platten bestellt. Selbsttäuschung bis zum letzten Tag. Er harrte in diesem Haus aus wie der Kapitän der Titanic. Ich erinnere mich noch daran, als das Fenster kurz nach dem Mord zum ersten Mal mit einem Schrotgewehr zerschossen worden war – wie er starrsinnig mit der Faust gedroht hatte. Mom wollte, glaube ich, wegziehen. Für Dad kam das nicht in Frage. In seinen Augen wäre ein Umzug einer Kapitulation gleichgekommen. Das Eingeständnis der Schuld ihres Sohnes. Ein Umzug wäre Verrat gewesen. Dumm.

    Sheila sah mich an. Ich konnte die Wärme, die von ihr ausging, fast auf der Haut spüren, wie einen Sonnenstrahl, und einen Augenblick lang badete ich darin. Wir hatten uns vor ungefähr einem Jahr bei der Arbeit kennen gelernt. Ich bin Senior Director des Covenant House an der 41st
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