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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen
Autoren: H Coben
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hatte er immer für mich
parat. »Hey, Will«, sagte er, und seine mürrische Stimme wurde sanft. Dad freute sich immer, seine Kinder zu sehen. Vor jenen Ereignissen war mein Vater recht beliebt gewesen. Die Leute hatten ihn gemocht. Er war freundlich und zuverlässig, wenn auch manchmal ein bisschen bärbeißig, wodurch er aber eigentlich nur noch verlässlicher wirkte. Doch selbst wenn mein Vater jemanden anlächelte, interessierte er sich doch nicht die Bohne für ihn. Seine Welt war die Familie. Alle anderen Menschen waren ihm egal. Das Leid von Fremden und selbst von Freunden ging ihm nicht wirklich nah – für ihn drehte sich alles um seine Familie.
    Ich saß neben ihm im Sessel und wusste nicht, wie ich das Thema ansprechen sollte. Ich holte ein paar Mal tief Luft und hörte, wie er dasselbe tat. In seiner Nähe fühlte ich mich unglaublich sicher. Auch wenn er älter war und mehr Falten hatte und ich inzwischen größer und kräftiger war als er, wusste ich doch, dass er immer noch für mich eintreten und sich für mich in die Bresche werfen würde, wenn ich in Schwierigkeiten geraten sollte.
    Und dass ich immer noch einen Rückzieher machen und ihn gewähren lassen würde.
    »Ich muss den Ast zurückschneiden«, sagte er und deutete in die Dunkelheit.
    Ich sah ihn nicht. »Ja«, sagte ich.
    Das Licht aus dem Spalt über der Schiebetür fiel auf sein Profil. Seine Wut war verraucht, und er wirkte erschöpft. Manchmal glaube ich, dass er tatsächlich versucht hat, für Ken einzutreten und sich für ihn in die Bresche zu werfen, als Julie ermordet worden war, dass er es jedoch nicht verkraftet hat. Ich sah in seinen Augen immer noch die schmerzliche Überraschung eines Menschen, dem man ohne Vorwarnung in den Unterleib getreten hatte, und der nicht wusste, warum.

    »Alles klar?«, fragte er. Seine übliche Gesprächseröffnung.
    »Mir geht’s gut. Na ja, gut nicht, aber …«
    Dad unterbrach mich mit einer Geste. »Ja, war ’ne dumme Frage«, sagte er.
    Wieder schwiegen wir. Dad zündete sich eine Zigarette an. Er hatte sonst nicht zu Hause geraucht. Die Gesundheit der Kinder und so. Er nahm einen Zug und dann, als wäre es ihm plötzlich wieder eingefallen, sah er mich an und drückte sie aus.
    »Schon okay«, sagte ich.
    »Ich habe mit deiner Mutter abgemacht, dass ich nie zu Hause rauche.«
    Ich ließ ihn gewähren, dann stürzte ich mich ins Gefecht. »Vor ihrem Tod hat Mom mir was erzählt.«
    Er sah mich an.
    »Sie hat gesagt, dass Ken noch lebt.«
    Einen kurzen Augenblick lang erstarrte Dad. Dann entspannte er sich wieder und sagte traurig lächelnd: »Das waren die Medikamente, Will.«
    »Das habe ich auch gedacht«, sagte ich. »Zu Anfang.«
    »Und jetzt?«
    Ich sah ihm ins Gesicht, suchte nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass er mich belog. Natürlich hatte es Gerüchte gegeben. Ken war nicht reich. Viele fragten sich, wie er es sich hätte leisten können, so lange unterzutauchen. Meine bisherige Antwort war natürlich gewesen, dass er nicht untergetaucht, sondern in jener Nacht umgekommen war. Andere, vielleicht die meisten, glaubten jedoch, dass meine Eltern ihm irgendwie Geld zukommen ließen.
    Ich zuckte die Achseln. »Ich frag mich bloß, warum sie das nach so vielen Jahren sagt.«
    »Die Medikamente«, wiederholte er. »Außdem lag sie im Sterben, Will.«

    Der zweite Teil der Antwort schien so viel auszudrücken, dass ich ihn einen Augenblick lang im Raum stehen ließ. Dann fragte ich: »Glaubst du, dass Ken noch lebt?«
    »Nein«, sagte er. Und dann blickte er zur Seite.
    »Hat Mom irgendetwas zu dir gesagt?«
    »Über deinen Bruder?«
    »Ja.«
    »So ziemlich das, was du eben erzählt hast«, sagte er.
    »Dass Ken lebt.«
    »Ja.«
    »Sonst noch was?«
    Dad zuckte die Achseln. »Sie hat gesagt, dass er Julie nicht umgebracht hat. Und dass er jetzt schon zurück wäre, aber erst noch was erledigen muss.«
    »Was muss er erledigen?«
    »Sie hat wirres Zeug geredet, Will.«
    »Hast du sie gefragt?«
    »Natürlich, aber sie hat einfach weiter vor sich hin gemurmelt. Sie hat mich nicht mehr verstanden. Ich habe sie beruhigt und ihr gesagt, dass schon alles in Ordnung kommt.«
    Wieder blickte er zur Seite. Ich überlegte, ob ich ihm das Foto von Ken zeigen sollte, entschied mich aber dagegen. Ich musste erst einmal in Ruhe darüber nachdenken, bevor ich ihn da mit hineinzog.
    »Ich hab ihr gesagt, dass alles in Ordnung kommt«, wiederholte er.
    Durch die Glastür sah ich einen Foto-Würfel
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