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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen
Autoren: H Coben
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1
    Drei Tage vor ihrem Tod sagte meine Mutter mir – es waren fast, wenn auch nicht ganz, ihre letzten Worte –, dass mein Bruder noch lebte.
    Das war alles. Sie erläuterte es nicht weiter. Sie sagte es auch nur ein einziges Mal. Es ging ihr ziemlich schlecht. Das Morphium hatte sie bereits fest im Griff. Ihre Hautfarbe lag irgendwo zwischen Gelbsucht und verblichener Sommerbräune. Ihre Augen waren tief eingesunken. Meist schlief sie. Danach hatte sie nur noch einen einzigen lichten Moment – falls der, in dem sie mir das erzählt hatte, ein solcher gewesen war, was ich stark bezweifelte – und den nutzte ich dazu, ihr zu sagen, dass sie eine wunderbare Mutter gewesen sei und dass ich sie sehr liebte. Dann verabschiedete ich mich von ihr. Wir sprachen nicht mehr über meinen Bruder. Das hieß nicht, dass wir nicht an ihn dachten, als säße auch er an ihrem Bett.
    »Er lebt.«
    Das waren ihre Worte. Und wenn sie der Wahrheit entsprachen, wusste ich nicht, ob das gut oder schlecht war.

    Vier Tage später trugen wir meine Mutter zu Grabe.
    Als wir hinterher zur siebentägigen jüdischen Totenwache ins Haus zurückkehrten, rannte mein Vater zornig über den Teppichboden im Wohnzimmer. Sein Gesicht war rot vor Wut. Ich war natürlich da. Meine Schwester Melissa war mit ihrem
Mann Ralph aus Seattle gekommen. Tante Selma und Onkel Murray gingen im Zimmer auf und ab. Sheila, meine Lebensgefährtin, hielt meine Hand.
    Das waren dann auch schon alle.
    Nur ein einziges Blumengebinde stand da, ein prachtvolles Monstrum. Sheila lächelte und drückte meine Hand, als sie die Karte sah. Darauf waren keine Worte, keine Botschaft, nur eine Zeichnung:

    Dad sah immer wieder aus dem Erkerfenster – das in den letzten elf Jahren zweimal mit einer Schrotflinte zerschossen worden war – und murmelte leise: »Schweinehunde.« Hin und wieder drehte er sich um, wenn ihm noch jemand einfiel, der nicht gekommen war. »Herrgott noch mal, die Bergmans hätten ja wenigstens mal kurz reinschauen können.« Dann schloss er die Augen und sah zur Seite. Wieder packte ihn die Wut und vermischte sich mit der Trauer zu einer Überspanntheit, der ich mich nicht gewachsen sah.
    Ein neuer Verrat, einer von vielen in den letzten zehn Jahren.
    Ich brauchte frische Luft.
    Ich stand auf. Sheila sah mich besorgt an. »Ich geh spazieren«, sagte ich leise.
    »Soll ich mitkommen?«
    »Lieber nicht.«
    Sheila nickte. Wir waren seit fast einem Jahr zusammen. Ich hatte noch nie eine Freundin gehabt, die mit meinen manchmal ziemlich unvermittelten Stimmungsschwankungen so gut zurechtkam. Sie drückte meine Hand noch einmal, um mir zu sagen, dass sie mich liebte, und mir wurde etwas wärmer ums Herz.
    Die Fußmatte vor unserer Haustür war aus hartem Kunstrasen, mit einem Plastik-Gänseblümchen in der oberen linken Ecke, und sah aus, als hätten wir sie von einem Golfplatz mitgehen lassen. Ich trat darüber und schlenderte den Downing Place hinunter. Die Straße war gesäumt von unsäglich langweiligen Split-Level-Einfamilienhäusern mit Aluminiumfassaden aus den frühen Sechzigern. Ich trug noch immer den dunkelgrauen Anzug. Er juckte bei der Hitze. Unbarmherzig brannte die Sonne vom Himmel, und in einem Anflug von Nekrophilie dachte ich, dass heute ein perfekter Tag zum Verrotten wäre. Das Lächeln meiner Mutter, das – bevor das alles geschehen war – die ganze Welt hatte erstrahlen lassen, erschien vor meinen Augen. Ich verdrängte es.
    Ich wusste, wohin ich ging, glaube aber kaum, dass ich es mir eingestanden hätte. Eine unsichtbare Macht zog mich an. Manche würden es eine masochistische Ader nennen, andere womöglich darauf hinweisen, dass ich einen Schlussstrich ziehen wollte, aber ich glaube, es war nichts dergleichen.
    Ich wollte einfach den Ort sehen, an dem alles ein Ende genommen hatte.
    Der Anblick und die Geräusche der sommerlichen Vorstadt gingen mir auf die Nerven. Kreischende Kinder fuhren auf Fahrrädern hin und her. Mr Cirino, dem das Ford/Mercury-Autohaus gehörte, mähte seinen Rasen. Die Steins – sie hatten eine kleine Kette von Haushaltsgeräteläden aufgebaut und geleitet, bis sie von einer größeren Ladenkette geschluckt worden war – gingen Hand in Hand spazieren. Vor dem Haus der Levines wurde Touch-Football gespielt, allerdings kannte ich keinen der Mitspieler. Aus dem Garten der Kaufmans wehte Grillgeruch herüber.
    Ich kam am alten Haus der Glassmans vorbei. Mark »der Depp« Glassman war mit sechs Jahren
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