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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen
Autoren: H Coben
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Street in New York City. Wir sind eine Wohltätigkeitsorganisation, die jungen Ausreißern hilft, auf der Straße zu überleben. Sheila hatte sich als freiwillige Helferin gemeldet. Sie stammte aus einem Dorf in Idaho, aber das Mädchen vom Lande sah man ihr kaum noch an. Sie erzählte mir, dass sie vor vielen Jahren auch von zu Hause abgehauen war. Mehr verriet sie nicht über ihre Vergangenheit.
    »Ich liebe dich«, sagte ich.
    »Alles andere wäre auch unerklärlich«, erwiderte sie.
    Ich verdrehte nicht die Augen. Sheila war bis zum Schluss gut zu meiner Mutter gewesen. Sie war mit dem Stadtbus von Port Authority zur Northfield Avenue gefahren und von dort zu Fuß zum St. Barnabas Medical Center gegangen. Vor ihrer Krankheit war meine Mutter das letzte Mal im St. Barnabas gewesen, als sie mich zur Welt gebracht hat. Wahrscheinlich konnte man darin etwas Ergreifendes über den Kreislauf des Lebens erkennen, das interessierte mich im Augenblick allerdings wenig.
    Aber ich hatte gesehen, wie Sheila mit meiner Mutter umgegangen war. Und ich fragte mich, wie es um sie stand. Ich riskierte es.
    »Du solltest deine Eltern anrufen«, sagte ich leise.
    Sheila sah mich an, als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen. Sie stand auf.
    »Sheila?«
    »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, Will.«
    Ich nahm einen kleinen Bilderrahmen mit einem Foto meiner braun gebrannten Eltern in die Hand. »Wieso nicht?«
    »Du weißt nichts über meine Eltern.«

    »Dann kannst du mir ja mal was von ihnen erzählen«, erwiderte ich.
    Sie wandte mir den Rücken zu. »Du hast doch mit Ausreißern gearbeitet«, sagte sie.
    »Und?«
    »Du weißt, wie furchtbar das oft ist.«
    Das stimmte. Wieder dachte ich an ihre leicht verrutschten Gesichtszüge – zum Beispiel die Nase mit dem verräterischen Höcker – und probierte es trotzdem noch einmal. »Ich weiß auch, dass es oft noch schlimmer ist, wenn man nicht darüber redet.«
    »Ich habe darüber geredet, Will.«
    »Nicht mir mir.«
    »Du bist nicht mein Therapeut, Will.«
    »Ich bin der Mann, den du liebst.«
    »Ja.« Sie sah mich an. »Aber nicht jetzt, okay? Bitte.«
    Darauf konnte ich nichts entgegnen, aber vielleicht hatte sie Recht. Ich spielte abwesend am Fotorahmen herum. Da geschah es.
    Das Foto im Rahmen verrutschte etwas.
    Ich sah es an. Dahinter kam ein anderes Bild zum Vorschein. Ich schob das obere Bild noch etwas weiter zur Seite. Auf dem unteren Foto erschien eine Hand. Ich versuchte, das obere noch etwas weiter zu verschieben, doch es ging nicht. Ich drehte den Rahmen um und öffnete die Klammern an der Rückseite. Sie fielen aufs Bett. Zwei Fotos segelten hinterher.
    Eins – das obere – war das meiner Eltern auf der Kreuzfahrt. Sie wirkten glücklich, gesund und so entspannt, wie ich mich kaum noch an sie erinnern kann. Mir jedoch stach das zweite, versteckte Foto ins Auge.
    Der rote Stempel am unteren Rand zeigte ein Datum, das noch keine zwei Jahre alt war. Das Bild war auf einem Feld oder
an einem Hang oder so etwas Ähnlichem aufgenommen worden. Im Hintergrund waren keine Häuser zu sehen, nur schneebedeckte Berge – fast wie in der Eröffnungsszene von The Sound of Music. Der Mann auf dem Bild trug Shorts, einen Rucksack, eine Sonnenbrille und abgewetzte Wanderschuhe. Ich kannte das Lächeln. Ich kannte auch das Gesicht, obwohl es jetzt mehr Falten hatte. Die Haare waren länger. Im Bart sah man graue Strähnen. Trotzdem bestand kein Zweifel.
    Der Mann auf dem Foto war mein Bruder Ken.

2
    Mein Vater saß allein auf der Veranda. Es war Nacht geworden. Reglos starrte er in die Dunkelheit. Als ich hinter ihn trat, packte mich eine bittere Erinnerung.
    Rund vier Monate nach Julies Ermordung hatte ich meinen Vater im Keller gesehen. Genau wie jetzt hatte er mir den Rücken zugewandt. Er dachte, er wäre allein im Haus. In der rechten Hand hielt er seine .22er Ruger. Er umfasste die Pistole sanft, wie ein kleines Tier. Nie zuvor hatte ich solche Angst verspürt. Ich war vollkommen erstarrt. Er konzentrierte sich ganz auf die Pistole. Nach einigen langen Minuten schlich ich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf und tat, als wäre ich gerade ins Haus gekommen. Als ich die Treppe hinunterstapfte, war die Waffe verschwunden.
    Eine Woche lang war ich meinem Vater nicht von der Seite gewichen.
    Jetzt schlüpfte ich durch die Glasschiebetür. »Hey«, sagte ich zu ihm.
    Er fuhr herum, während sich auf seinem Gesicht bereits ein freundliches Lächeln ausbreitete. Das
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