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Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)

Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)

Titel: Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
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Wanderer, kommst du nach Gerstengrund
    »Hallo? Hallo?«
    »Ja, hier ist der Tagesspiegel . Berlin. Bin ich mit der Stadt Geisa verbunden?«
    »Geisa in Thüringen. Möller.«
    »Ja, Frau Möller, wir machen so eine Serie über die Hochburgen der Parteien, und da haben wir festgestellt, dass die Gemeinde Gerstengrund, die zu Geisa gehört, bei der letzten Bundestagswahl zu 95,65 Prozent CDU gewählt hat. Deutscher CDU-Rekord. Und da würde ich halt gerne wissen, woran das liegt.«
    »Das ist ganz einfach. Das hängt mit dem katholischen Glauben zusammen.«
    Frau Möller klingt unheimlich nett und hilfsbereit. Gerstengrund gehört, genau genommen, gar nicht zu Geisa, sondern wird als formal selbständiges Dorf von Geisa aus verwaltet. Gerstengrund hat 47 Wahlberechtigte, Geisa etwa 3500 Einwohner. Beide Orte liegen hart an der innerdeutschen Grenze, die man in gewisser Weise wohl immer noch so nennen muss, im ehemaligen Sperrgebiet, das eine verbotene Zone war. Im Sperrgebiet konnten die Leute nur mit einer Sondererlaubnis Besuch empfangen, das Rein- und Rauskommen waren eine schwierige Sache, man war isoliert. Das Sperrgebiet war eine Art verschärfte DDR. Jetzt dagegen liegt es sozusagen fast schon im Westen.
    Den Westen repräsentiert hier das Bundesland Hessen. Wie läuft es denn so in Geisa und Umgebung? Recht gut, sagt Frau Möller. Geisa wird vom Gebirge Rhön umgeben, landschaftlich reizvoll, der Fremdenverkehr gewinnt allerdings nur langsam an Boden. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit niedrig. Warum? »Sehr viele pendeln zur Arbeit nach Hessen.«
    Im Gemeinderat von Geisa verfügt die CDU über zehn Sitze, fünf Sitze gingen an die Freien Wähler, die traditionell fast überall der CDU nahestehen, ein Sitz gehört der Interessengemeinschaft der Geisaer Vereine. Die politische Opposition besteht aus der PDS, ein Sitz.
    »Und die SPD?«
    Frau Möller sagt: »Wir haben hier keine SPD.«
    »Wie, keine SPD?«
    »Es gibt keinen Ortsverein. Sie kandidiert nicht.«
    Und die Grünen? »Gibt es bei uns auch nicht.« »FDP ?« Frau Möller sagt: »FDP, das haben wir hier auch nicht.«
    Ich denke: Das ist das einzige frei gewählte Einparteiensystem der Welt. Ist Geisa das Pjöngjang von Deutschland? Ein demokratisches Pjöngjang?
    Was Gerstengrund angeht, empfiehlt Frau Möller als Informationsquelle den Bürgermeister Antonius Schütz. Zum Schluss frage ich: »Wer hat eigentlich die anderen 4,35 Prozent gekriegt?«
    »Ich glaube, die Republikaner.« Man spürt, dass sie das nicht gerne sagt.
    Anruf beim Bürgermeister. Eine Frau meldet sich.
    »Von der Zeitung sind Sie? Der Bürgermeister ist in Urlaub.«
    »Wann kommt er denn wieder?«
    Pause. »Zeitungen wollen wir hier nicht.«
    »Ja, um Himmels willen, wie meinen Sie das denn?«
    »Ich meine das so: Mit Zeitungen möchten wir grundsätzlich nichts zu tun haben.« Die Dame legt auf.
    Zweiter Anruf bei Frau Möller. Sie hat inzwischen das genaue Wahlergebnis nachgeschaut und wirkt erleichtert. »Also, 47 Wahlberechtigte, Wahlbeteiligung 46 Stimmen, davon CDU 44, SPD 1, FDP 1.« Bei der Bundestagswahl ist, anders als bei der Kommunalwahl, die SPD zugelassen. Das Ergebnis war für die CDU, obwohl es gut klingt, im Grunde ein Desaster. Bei der Landtagswahl 1999 hatte sie in Gerstengrund nämlich 100 Prozent. Ein Minus von vier Prozent. Frau Möller sagt, wenn Antonius Schütz in Urlaub sei, könnte ich mit der stellvertretenden Bürgermeisterin reden, Frau Neidhart.
    Frau Neidhart schweigt am Telefon lange. Dann ruft sie: »Nein! Nein! Nein! Das sind ja schon wieder Sie. Wir hatten bereits das Vergnügen.«
    »Ach, Sie waren das bei Antonius Schütz? Dann ist die stellvertretende Bürgermeisterin also die Ehefrau des Bürgermeisters?«
    »Wie kann ich denn die Ehefrau von Antonius Schütz sein? Ich heiße doch anders.«
    »Na ja ... heutzutage gibt es das manchmal, dass Ehefrauen einen anderen Namen haben. In Berlin.«
    »Stimmt. Also, ich bin die Schwester des Bürgermeisters.« Eine winzige Spur von Zugänglichkeit ist in der Stimme von Frau Neidhart andeutungshaft zu erahnen.
    »Hören Sie, Frau Neidhart, warum reden wir nicht? Es ist doch keine Schande, CDU zu wählen.«
    »Nein, eine Schande ist das weiß Gott nicht. Aber wirhaben schlechte Erfahrungen gemacht. Das wissen vor allem Sie ganz genau. Sie haben doch damals diesen widerlichen Artikel geschrieben.«
    »Aber nein! Ich schwöre, dass ich noch niemals in Gerstengrund gewesen bin! Das wüsste ich!
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