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Blutschnee

Blutschnee

Titel: Blutschnee
Autoren: C Box
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    Ein Sturm näherte sich den Bighorn Mountains.
    Es war Ende Dezember, vier Tage vor Weihnachten – die letzte Woche der Jagdsaison für Wapitis. Joe Pickett, Jagdaufseher in Wyoming, hatte seinen allradgetriebenen grünen Pick-up am Waldrand der südlichen Wolf Range geparkt. Er patrouillierte eine riesige bewaldete Senke und befand sich an deren östlichem Rand. Das Meer aus dunklen Nadelbäumen wurde nur gelegentlich von alten Schneisen und Bergwiesen unterbrochen und war von fingerknöchelartigen Granitrücken durchzogen. Hinter dem westlichen Rand der Senke lag der Battle Mountain, den der Crazy Woman Creek – ein Bach, der in den Twelve Sleep River mündete – von der Wolf Range trennte.
    Es war zwei Stunden vor Einbruch der Dunkelheit, doch der Himmel war bleiern und finster, und es sah stark nach Schnee aus. Da eine Wolkenwand die Sonne verdeckt hatte, war die Temperatur im Laufe des Nachmittags gesunken. Nun war es zwei Grad unter null, und der feuchte Wind pfiff eisig über die Landschaft. Für den Abend und den folgenden Tag war die erste dringende Wintersturmwarnung für Nordwyoming und Südmontana ausgegeben worden, und dahinter bildete sich in Kanada schon eine neue Sturmfront. Die Wolken rückten in fester Formation heran und wirkten schwer und bedrohlich.
    Joe kam sich vor wie ein Soldat auf einem entlegenen Außenposten, der dem Rumpeln und Klirren lauscht, mit dem feindliche Artillerie in Stellung gebracht und Geschütze geladen werden, ehe das Sperrfeuer beginnt.

    Den Großteil des Nachmittags über hatte er eine Herde von zwanzig Wapitis beobachtet, die vorsichtig zum Äsen aus dem schwarzen Wald auf eine windige Wiese getreten waren, und zwischendurch immer wieder die Wolken studiert.
    Auf dem Beifahrersitz lag ein Bündel Papiere, das seine Frau Marybeth für ihn zusammengesucht hatte: Unterlagen, die seine Töchter aus der Schule mitgebracht hatten. Nun, da alle drei Mädchen zur Schule gingen – die elfjährige Sheridan besuchte die fünfte Klasse, die sechsjährige Lucy den Kindergarten und die neunjährige Pflegetochter April die dritte Klasse – , schien das kleine Haus, das der Staat Wyoming Joe als Dienstwohnung zur Verfügung stellte, in Papieren zu ertrinken. Beim Durchblättern des Stapels musste Joe immer wieder grinsen. Für ihre Cartoons erntete Lucy dauernd Smileys von der Lehrerin. April kam mit dem Einmaleins nicht allzu gut klar – vor allem die Fünf, die Acht und die Drei bereiteten ihr Schwierigkeiten. Doch die Lehrerin hatte ihnen erst kürzlich geschrieben und Aprils Fortschritte sehr gelobt.
    Sheridan hatte beschreiben sollen, womit ihr Vater sein Geld verdiente.
    Mein Vater, der Jagdaufseher
Von Sheridan Pickett, 5. Klasse
Klassenlehrerin: Mrs. Barron
     
    Mein Vater ist Jagdaufseher für alle Berge ringsum. In der Jagdsaison arbeitet er schwer, kehrt spät am Abend zurück und verlässt das Haus früh am Morgen. Er sorgt dafür, dass die Jäger verantwortlich handeln und sich an die Gesetze halten. Das kann gefährlich sein, doch mein Vater macht seine Arbeit sehr gut. Seit dreieinhalb Jahren leben wir nun in Saddlestring, und seitdem macht er diese Arbeit. Manchmal
rettet er Tiere aus Gefahr. Meine Mutter ist Hausfrau, arbeitet aber stundenweise in einem Stall und in der Bücherei …

    Joe wusste, dass er nicht allein in den Bergen war, denn er hatte weiter unten in der Senke einen neuen Pick-up in Bronzemetallic entdeckt, sein ans Seitenfenster montiertes Spektiv auf den Wagen gerichtet und einen kurzen Blick durchs Heckfenster werfen können. Der Fahrer war allein unterwegs und hatte ein Gewehr mit Zielfernrohr dabei; sein Nummernschild zeigte einen Rodeo reitenden Cowboy – also kam der Wagen aus Wyoming; und die leere Ladefläche deutete darauf hin, dass der Jäger sein Wapiti noch nicht erwischt hatte. Joe hatte vergeblich versucht, das Nummernschild zu erkennen, ehe der Pick-up zwischen den Bäumen verschwand, und hatte stattdessen das Äußere des Wagens im Notizblock auf der Mittelkonsole vermerkt. Es war das einzige Fahrzeug, das er den ganzen Tag über in dieser Gegend gesehen hatte.
    Fünfundzwanzig Minuten später schob sich das letzte Wapiti witternd auf die Lichtung und gesellte sich zur äsenden Herde. Die Tiere schienen den heraufziehenden Sturm zu spüren und das letzte Tageslicht nutzen zu wollen, um sich noch einmal satt zu fressen, ehe das Gras unter einer Schneedecke begraben wurde. Joe überlegte, dass dem einsamen Jäger im Pick-up
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