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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen
Autoren: H Coben
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mit alten, gelbgrün verblichenen Bildern. Neuere Fotos gab es im Zimmer nicht. Unser Haus war seit elf Jahren in einer Zeitschleife gefangen, wie in dem alten Lied, wo die Standuhr stehen bleibt, als der alte Mann stirbt. »Ich bin gleich wieder da«, sagte Dad.
    Ich sah ihm nach, als er aufstand und so weit ging, bis er sich
außer Sicht glaubte. Aber ich sah seine Silhouette in der Dunkelheit. Ich sah, wie er den Kopf senkte. Seine Schultern fingen an zu zucken. Ich glaube nicht, dass ich meinen Vater je weinen gesehen hatte. Ich wollte jetzt nicht damit anfangen.
    Ich wandte mich ab und dachte an das andere Foto, das von meinen Eltern auf der Kreuzfahrt, auf dem sie braun gebrannt und glücklich aussahen, und fragte mich, ob er vielleicht auch daran dachte.

    Als ich spätnachts aufwachte, lag Sheila nicht im Bett.
    Ich setzte mich auf und horchte. Nichts. Jedenfalls nicht in der Wohnung. Ich hörte das vertraute nächtliche Summen des Straßenverkehrs drei Stockwerke unter uns. Ich blickte zum Bad hinüber. Das Licht war aus. Alle Lichter in der Wohnung waren aus.
    Ich überlegte, ob ich sie rufen sollte, doch die Stille hatte etwas Zerbrechliches an sich, so zart wie eine Seifenblase. Ich glitt aus dem Bett. Meine Füße berührten den Teppichboden, den man in Mietshäusern verlegen muss, um die Geräusche von oben und unten zu dämpfen.
    Die Wohnung war nicht groß. Sie hatte nur ein Schlaf- und ein Wohnzimmer. Ich tappte zum Wohnzimmer und sah hinein. Da war Sheila. Sie saß auf der Fensterbank und blickte auf die Straße hinunter. Ich starrte ihren Rücken an, den Schwanenhals, die wunderbaren Schultern und die Art, wie ihre Haare auf die weiße Haut fielen, und wieder ging mir das Herz über. Unsere Beziehung hatte das Anfangsstadium noch nicht ganz überwunden, die Gott-ist-das-Leben-nicht-wunderbar-Phase, in der man nicht genug voneinander bekommen kann, dieses faszinierende Kribbeln im Bauch, wenn man durch den Park läuft, um sie zu sehen. Ein Gefühl, von dem man einfach weiß,
dass es sich bald in etwas anderes, Tieferes und Bedeutsameres verwandeln wird.
    Ich war erst einmal verliebt gewesen. Und das war sehr lange her.
    »Hey«, sagte ich.
    Sie drehte den Kopf nur ein wenig, aber es reichte. Tränen liefen ihre Wangen hinab. Sie glitzerten im Mondschein. Sheila gab keinen Laut von sich – kein Wimmern oder Schluchzen und ihre Brust bewegte sich nicht. Nur die Tränen. Ich stand in der Tür und wusste nicht, was ich tun sollte.
    »Sheila?«
    Bei unserer zweiten Verabredung hatte Sheila mir einen Kartentrick vorgeführt. Ich musste zwei Karten aussuchen und sie mitten in ein Kartenspiel hineinstecken, während sie wegsah. Dann hatte sie das ganze Spiel mit Ausnahme meiner beiden Karten auf den Boden geworfen. Sie hatte breit gelächelt, nachdem sie diesen Trick vorgeführt hatte, und mir die beiden Karten zur Prüfung vorgehalten. Ich hatte ihr Lächeln erwidert. Es war – wie soll man es sagen – albern? Sheila war oft albern. Sie mochte Kartentricks, Kirschsirup und Boygroups. Sie sang Opernarien, war ein absoluter Bücherwurm und weinte bei Werbespots für Hallmark-Glückwunschkarten. Ihre Imitation von Homer Simpson und Mr Burns war fantastisch, ihr Smithers und ihr Apu fielen allerdings etwas ab. Vor allem aber tanzte Sheila gern. Sie schloss die Augen, legte den Kopf auf meine Schulter und versank.
    »Tut mir Leid, Will«, sagte Sheila, ohne sich umzudrehen.
    »Was denn?«, fragte ich.
    Sie sah weiter aus dem Fenster. »Geh wieder ins Bett. Ich komm in ein paar Minuten nach.«
    Ich wollte bei ihr bleiben und sie beruhigen. Doch ich tat es nicht. Ich kam im Moment nicht an sie heran. Irgendetwas
hatte sie von mir weggezogen. Worte oder Handlungen wären bestenfalls überflüssig, wenn nicht gar schädlich. Das redete ich mir zumindest ein. Also machte ich einen Riesenfehler. Ich ging wieder ins Bett und wartete.
    Aber Sheila kam nicht zurück.

3
    Las Vegas, Nevada
     
    Morty Meyer lag auf dem Rücken in seinem Bett und schlief tief und fest, als er die Mündung der Pistole auf seiner Stirn spürte.
    »Aufwachen«, sagte eine Stimme.
    Morty riss die Augen auf. Das Schlafzimmer lag im Dunkeln. Er wollte den Kopf heben, doch die Pistole drückte ihn nach unten. Er wandte den Blick in Richtung des Radioweckers auf dem Nachttisch. Aber da stand kein Wecker. Jetzt fiel ihm ein, dass er seit Jahren keinen mehr hatte. Seit Leahs Tod. Seit er das Kolonialstil-Haus mit den vier Schlafzimmern
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