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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition)
Autoren: Harald Gilbers
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Prolog
    Frühsommer 1939
    D as Licht stand auf zehn Uhr Vormittag. In der Hauptstadt des Deutschen Reiches schimmerten die Straßenschluchten in blendendem Weiß. Doch nichts regte sich, alles wirkte wie erstarrt, festgefroren in einem ewigen Winter.
    Es würde noch einige Zeit dauern, bis das alltägliche Chaos der Stadt Berlin in jene Winkel vorgedrungen war. In diesem Moment strahlten die Straßen in ihrer Verlassenheit noch Symmetrie und Ordnung aus, nirgends waren Fahrzeuge am Bordstein abgestellt, niemand flanierte durch die Alleen. Der ordentliche Eindruck wurde nur durch die getrockneten Leimbläschen gestört, die trotz der Gewissenhaftigkeit der Baumeister hier und da unter den Gebäuderiegeln auf die Wege gequollen waren.
    Die breite Straßenachse lief pfeilgerade auf eine mächtige Kuppel zu, die man bereits in mehreren Kilometern Entfernung am Horizont erkennen würde. Irgendwann in ferner Zukunft. Was jetzt noch in weißer Pracht den Horizont dominierte, sollte dereinst im grünen Gewand des patinierten Kupfers die ganze Stadt überstrahlen. Die Große Volkshalle, die hundertachtzigtausend Menschen Platz bot, war ein Ort für noch nie gesehene Siegesfeiern.
    Hoch über den Dächern erklang ein Flüstern: »Hervorragend, Speer.«
    Hier war die Stimme nicht jenes ferne Kratzen mit dem rollenden »R«, das jeder Volksgenosse aus dem Rundfunk oder der Wochenschau kannte, und es war ebenfalls nicht das heisere Bellen, das der Diktator in seinem Repertoire hatte, wenn es galt, die Menschenmassen aufzupeitschen. Vor dem dreißig Meter langen Modell der künftigen Prachtstraße ertönte die Stimme, ganz privat in ihrem natürlichen Bariton, wirkte gedankenverloren, fast sanft. Das Hinterteil herausgestreckt, eine Pose, die er sonst vermied, bückte sich der Diktator, um eine erdnahe Perspektive zu erproben.
    Es ließ sich nicht leugnen, dass er mit Albert Speer einen Baumeister gefunden hatte, der es gelegentlich schaffte, die kühnen Ideen seines Auftraggebers in Größe und Maßstab gar noch zu übertreffen. Die Paradestraße mit einer Länge von mehr als fünf Kilometern, der Triumphbogen mit seinen schattigen Säulengängen, der fast fünfzig Mal so groß wie der Pariser Arc de Triomphe sein würde, die Große Volkshalle, geplant als das größte Bauwerk der Welt, dessen Kuppel sich im Inneren über eine Höhe von zweihundertzwanzig Metern wölbte – die ganze Stadtplanung war ein Wettbewerb mit anderen Weltstädten, Stein gewordener Ausdruck eines empfindlich gekränkten Nationalstolzes, der nun mit aller Macht wieder auftrumpfen wollte.
    Das Zentrum der Reichshauptstadt sollte sich in eine riesige Bühne für Aufmärsche und Paraden verwandeln. Die Frage, ob wirklich jemand in dieser Stadt leben konnte, kam dem Diktator dabei nur selten in den Sinn. Die umliegenden Wohnblocks waren nicht mehr als einförmige Quader, die man nach Belieben neu aufteilen konnte, wenn es die Verkehrsplanung verlangte.
    Für das alte Berlin mit seinen Widersprüchen, für die schnodderige, manchmal zutiefst provinzielle Metropole, die es die längste Zeit über gewesen war, gab es in dieser grandiosen Vision keinen Platz. Der Diktator dachte seit geraumer Zeit darüber nach, dies gleich von vornherein deutlich zu machen. Berlin klang für seinen Geschmack zu schnöde, es musste ein neuer Name her, ein grandioser, monumentaler Name, einer Welthauptstadt würdig. Vielleicht ein Name wie Germania.
    Der Blick des Diktators wurde immer wieder magisch von der Kuppel der Großen Volkshalle angezogen. Schließlich beäugte er kritisch den Aufbau auf ihrer Spitze, wo der Reichsadler auf dem Hakenkreuz thronte. Dann schüttelte er, von jäher Erkenntnis gepackt, den Kopf. »Das dort müssen wir ändern, Speer. Es ist besser, wenn der Adler hier nicht mehr über dem Hakenkreuz steht. Die Bekrönung dieses Bauwerkes soll der Adler über der Weltkugel sein.«
    Als Hitler gegangen war, drehte sich Generalbauinspektor Speer nochmals im Türrahmen um. Nur das Lampensystem, mit dem er jegliche Tageslichtstimmung realitätsgetreu simulieren konnte, erhellte den Ausstellungsraum der Akademie. Das Stadtmodell ruhte im dunklen Zimmer, ein heller Fleck in einer schwarzen Unendlichkeit, eine Verheißung für die Zukunft. Bis dahin gab es noch viel zu tun. Speer schaltete die Beleuchtung aus.
    Nacht fiel über Germania.

1
    Sonntag, 7. Mai 1944
    S ie sind gekommen, um mich zu holen, zuckte es ihm durch den Kopf. Als sich der Gedanke langsam setzte
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