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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
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Sekunden bei der Hochzeit entsinnen? Aber das war es, woran ich mich immer erinnerte, wenn ich an ihre Hochzeit dachte – dass es sich vielleicht um ein Entkommen aus der Unordnung handelte, so wie sie in früheren Tagen einem aufbrausenden, launischen Vater entflohen und in einem fernen Land zur Schule geschickt worden war. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie gehabt. Als erwöge sie den Wert von etwas, was sie gerade erworben hatte oder was ihr geschenkt worden war.
    Und deshalb beobachtete ich Emily, diese Person, die in meiner Jugend eine Zeitlang durch ihre Schönheit über mich geherrscht hatte. Doch ich hatte sie auch als ruhig und besonnen erlebt, obwohl sie sich bisweilen als Abenteurerin gab. Die Geschichten von ihrem Eheleben an den verschiedensten Orten und die Herzensangelegenheiten, die sich ereigneten, erschienen mir bezeichnend für meine Cousine, wie ich sie auf der Oronsay erlebt hatte.
    Hatte das, was auf jener Reise geschehen war, sie zu dem Menschen gemacht, der sie geworden war? Ich wusste es nicht. Ich würde nie wissen, wie sehr es sie verändert hatte. Ich dachte einfach darüber nach in jenen Augenblicken in Emilys spartanischem Häuschen auf einer der Inseln im Sund, in dem sie allein zu leben schien, als wollte sie sich verstecken.
    »Erinnerst du dich an die Zeit auf der Oronsay , auf dem Schiff, mit dem wir kamen?« fragte ich schließlich.
     
    Wir hatten nie über diese Reise gesprochen. Ich war zu der Überzeugung gelangt, das, was in jener Nacht vor dem Rettungsboot passiert war, sei in ihrem Gedächtnis verschüttet oder verdrängt worden. Soweit ich wusste, war die Fahrt für Emily nichts weiter als eine dreiwöchige Reise gewesen, die sie zu einem aufregenden Leben in England geführt hatte. Es war eigenartig, wie wenig ihr alles, was geschehen war, zu bedeuten schien.
    »O ja«, rief sie, als hätte ich ihr nach vergeblichem Fragen einen Namen genannt, an den sie sich wahrhaftig hätte erinnern müssen. Dann sagte sie: »Ich weiß noch, dass du ein richtiger yakka warst, ein richtiger kleiner Teufel.«
    »Ich war einfach ein Kind«, sagte ich. Sie warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Ich begriff, dass sie sich zu ihrer Erinnerung an das Geschehene vortastete, sich einzelner Dinge entsann.
    »Ich weiß noch, dass du ständig für Ärger gesorgt hast. Flavia hatte es wirklich nicht leicht mit dir. Ach je, Flavia Prins. Ob sie wohl noch am Leben ist …«
    »Ich glaube, sie lebt in Deutschland«, sagte ich.
    »Ah ja …« sagte sie in gedehntem Ton. Sie begab sich tiefer in ihre Gedanken und Erinnerungen.
     
    Wir blieben in dem Wohnzimmer mit den Kiefernholzwänden, bis es dunkel wurde. Ab und zu wendete sie den Kopf, um den Fähren zuzusehen, die zwischen Snug Cove und Horseshoe Bay hin- und herfuhren. Mitten im Sund stießen sie einen langgedehnten Klagelaut aus. Inzwischen waren sie die einzigen beleuchteten Gegenstände, die sich in der blaugrauen Dunkelheit bewegten. Emily sagte, wenn sie um sechs Uhr aufwachte, sehe sie die erste Fähre den Horizont entlanggleiten. Mir wurde klar, dass das hier Emilys Welt geworden war, die Landschaft all ihrer Tage und Abende und Nächte.
    »Komm. Wir gehen ein bisschen raus«, sagte sie.
    Und wir stiegen die steile Straße hinauf, die wir vor Stunden mit dem Wagen hinuntergefahren waren, und traten auf das raschelnde Laub.
    »Wie bist du hier gelandet? Das hast du noch nicht erzählt. Wann bist du nach Kanada gekommen?«
    »Vor etwa drei Jahren. Nach dem Ende meiner Ehe bin ich hierhergekommen und habe das Häuschen gekauft.«
    »Hast du je überlegt, Kontakt zu mir aufzunehmen?«
    »O Michael – deine Welt … und meine Welt.«
    »Na ja, jetzt haben wir uns getroffen.«
    »Ja.«
    »Und du lebst allein.«
    »Du warst schon immer sehr neugierig. Nein, da gibt es jemanden. Wie soll ich sagen … er hat es im Leben nicht leicht gehabt.«
    Ich erinnerte mich, dass sie immer schwierige, gefährdete Menschen gekannt hatte. Daran hatte sich seit damals nichts geändert. Ich dachte an die Zeit ihrer Ankunft in England zurück, als sie Internatsschülerin im Cheltenham Ladies’ College geworden war. Ich sah sie in den Ferien, stets mit irgendeinem Freund im Schlepptau; damals war sie noch Teil der Sri-Lanka-Gemeinschaft in London gewesen. Ihre neuen Freunde hatten etwas Anarchistisches an sich. Und in ihrem letzten Schuljahr hatte sie sich an einem Wochenende aus der Schule gestohlen, war auf den Rücksitz des Motorrads eines Freundes gestiegen
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