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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
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ging in die Hocke und zwang den Wärter mit hinunter, rollte sich dann auf die Seite, damit der andere die Kette von dem Eisenring um seinen Hals lösen konnte. Sobald sie gelockert war, schüttelte er sie ab.
    »Wirf die Schlüssel für meine Füße hin.« Das sagte er zu dem anderen Wärter. Offenbar wusste er, dass beide je einen eigenen Satz Schlüssel hatten. Wieder sprach er mit der ruhigen Stimme, die diesem machtlosen Menschen Macht verlieh.
    »Den Schlüssel, oder ich brech ihm das Genick.«
    Der andere Wärter rührte sich nicht, und Niemeyer zerrte an dem Körper des ersten Wärters, der kein Lebenszeichen von sich gab, vielleicht ohnmächtig war. Jemand stöhnte. Aber es war nicht der Mann, sondern das taube Mädchen, Niemeyers Tochter, das aus dem Schatten trat. Wolken zogen inzwischen eilig über den Mond, und das Deck war heller beleuchtet. Der Horizont klarte auf. Falls der Gefangene gehofft hatte, im Dunkeln zu entkommen, hatte er sich verrechnet.
    Das Mädchen ging zu ihm, beugte sich über den reglos daliegenden Wärter, sah zu seinem Vater und schüttelte den Kopf. Dann sagte sie mit ihrer ungelenken, schwerfälligen Stimme zu dem anderen Wärter: »Geben Sie ihm die Schlüssel. Für seine Füße. Bitte. Sonst bringt er ihn um.« Der zweite Wärter beugte sich mit dem Schlüssel zu Niemeyer, und das Mädchen und der Gefangene bewegten sich nicht, während der Wärter mit dem Schloss beschäftigt war. Dann stand Niemeyer auf, blickte rasch um sich und über die Reling in die Ferne. Bis zu diesem Augenblick war er sich vielleicht nur des ihm erlaubten Spielraums bewusst gewesen, der Länge seiner Ketten, und nun gab es mit einemmal die Möglichkeit einer Flucht. Seine Beine waren befreit. Nur seine Hände waren noch immer aneinandergekettet, mit dem Vorhängeschloss dazwischen. Dann kam die Wache herbei, sah, was los war, und blies ihre Trillerpfeife. Auf einmal war alles in Bewegung: Matrosen, Wachen und Passagiere kamen an Deck geeilt. Niemeyer ergriff das Mädchen und lief los, suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. Am Bug blieb er vor der Reling stehen. Wir dachten, er würde über Bord springen, aber er drehte sich um und blickte zurück. Doch niemand wagte sich in seine Nähe. Wir schlichen aus unserem Versteck hinaus. Es hatte keinen Sinn, sich zu verstecken, es hatte keinen Sinn, das Geschehen nicht verfolgen zu können.
    Einen Augenblick lang standen alle da wie angewurzelt, in weiter Ferne die Lichter von Neapel oder von Marseille. Niemeyer ging mit Asuntha weiter, die Leute wichen zurück, so dass eine enge Gasse entstand, und die Umstehenden sagten nicht laut, sondern so leise, als wehklagten sie: »Das Mädchen! Lassen Sie das Mädchen gehen! Lassen Sie sie!« Aber niemand wagte, ihm den Weg zu versperren und ihn festzuhalten, den gefesselten, barfüßigen Mann mit seiner Tochter. Und die ganze Zeit über blieb das Mädchen stumm. Inmitten all der Erregung, die sich zusammenballte, war allein ihr Gesicht unbeteiligt, nur die zwei großen Augen beobachteten alles, während er durch den Tunnel lief, den die Leute bildeten. »Lassen Sie das Mädchen gehen!«
    Dann wurde eine Pistole abgefeuert, und überall an Deck leuchteten Lichter auf, an der Brücke oberhalb von uns und in den Fenstern des Speisesaals, und diese unerwartete Lichtfülle ergoss sich wie eine Flüssigkeit vom Deck in das Meer. Wir sahen das aschfahle Mädchen ganz deutlich. Jemand rief – jedes Wort war klar artikuliert: »Gebt ihm nicht den letzten Schlüssel.« Und ich hörte Ramadhin neben mir ganz leise sagen: »Gebt ihm den Schlüssel.« Denn auf einmal war jedem klar, dass der Gefangene eine Gefahr für das Mädchen war, für jedermann, wenn er diesen Schlüssel nicht bekam. War die Miene des Mädchens ausdruckslos, so war die des Gefangenen von einem Furor erfüllt, wie wir es in den Nächten, in denen wir ihn an Deck beobachtet hatten, nie gesehen hatten. Bei jedem seiner Schritte weitete sich der enge Korridor, um ihm Durchgang zu gewähren. Er hatte nur diese begrenzte Freiheit, konnte nirgendwohin. Dann blieb er stehen und hielt das Gesicht des Mädchens mit seinen großen Händen ganz nah an sein Gesicht. Und lief wieder los und zerrte sie durch den Tunnel aus Menschen. Plötzlich sprang er auf die Reling und riss das Mädchen mit sich hinauf und stand dort oben, als wäre er bereit, vom Schiff in das dunkle Meer zu springen.
    Ein Suchscheinwerfer richtete sein Licht langsam auf die zwei Gestalten.
    Wind war
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