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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
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so hinunter. Den Lotsen schien das Ganze überhaupt nicht zu genieren, doch den zornerfüllten Offizieren der Orient Line auf der Brücke in ihren weißen Uniformen war der Zwischenfall unverkennbar peinlich. Die Passagiere riefen hurra, als das Boot des Lotsen ablegte. Und dann war das Geräusch der Ruderblätter zu hören und der müde Singsang des Lotsen, als der Schlepper in der Finsternis verschwand.

Aufbruch
    WAS HATTE ICH VOR DIESEM SCHIFF in meinem Leben gekannt? Ein Kanu aus einem ausgehöhlten Baumstamm bei einer Flussfahrt? Eine Barkasse im Hafen von Trincomalee? Fischerboote hatte es immer in Sichtweite gegeben. Aber niemals hätte ich mir die Pracht dieses Schlosses vorstellen können, das die Meere überqueren würde. Meine längsten Reisen waren Autofahrten nach Nuwara Eliya und nach Horton Plains gewesen oder die Fahrt mit dem Zug nach Jaffna, wenn wir um sieben Uhr morgens den Zug bestiegen und ihn am späten Nachmittag verließen. Für diese Reise hatten wir unsere Eiersandwiches dabei, thalagulies , ein Kartenspiel und eine kleine Ausgabe der Abenteuergeschichten von Boy’s Own .
    Aber nun war beschlossen worden, dass ich mit dem Schiff nach England reisen sollte, und zwar ganz allein. Es war keine Rede davon gewesen, dass dies eine außergewöhnliche Erfahrung oder aufregend oder gefährlich sein könnte, und deshalb sah ich der Reise weder freudig noch furchtsam entgegen. Man sagte mir nicht, dass das Schiff sieben Decks haben und mehr als sechshundert Menschen beherbergen würde, darunter einen Kapitän, neun Köche, Ingenieure und einen Veterinär, und dass es ein kleines Gefängnis und gechlorte Schwimmbecken besaß, die uns tatsächlich über mehrere Meere begleiten würden. Den Termin für den Aufbruch hatte meine Tante beiläufig auf dem Kalender angestrichen, als sie meiner Schule mitgeteilt hatte, dass ich mit dem Ende des Schuljahrs abgehen würde. Dass ich einundzwanzig Tage auf dem Ozean verbringen würde, wurde als Nebensächlichkeit behandelt, und ich wunderte mich, dass meine Verwandten sich überhaupt die Mühe machten, mich zum Hafen zu begleiten. Ich hatte angenommen, ich würde allein mit dem Bus fahren und in Borella Junction umsteigen.
    Es hatte einen einzigen Versuch gegeben, mich mit den Umständen der Reise vertraut zu machen. Eine Dame namens Flavia Prins, deren Ehemann ein Bekannter meines Onkels war, stand im Begriff, die gleiche Reise zu machen, wie sich herausstellte, und wurde eines Nachmittags zum Tee mit mir eingeladen. Sie würde in der ersten Klasse reisen, versprach aber, ein Auge auf mich zu haben. Ich gab ihr vorsichtig die Hand, denn ihre Hand war voller Ringe und Armreifen, und dann wandte sie sich ab und setzte das Gespräch fort, das ich unterbrochen hatte. Den größeren Teil der Teestunde verbrachte ich damit, ein paar Onkeln zuzuhören und zu zählen, wie viele zierlich geschnittene Sandwiches sie verzehrten.
    Am letzten Tag kramte ich ein leeres Schulheft, einen Bleistift, einen Spitzer und eine durchgepauste Weltkarte hervor und verstaute sie in meinem kleinen Koffer. Ich ging nach draußen, verabschiedete mich von dem Generator und grub die Überreste des Radios aus, das ich einmal auseinandergenommen und im Rasen verbuddelt hatte, als ich feststellen musste, dass ich es nicht wieder zusammenbauen konnte. Ich verabschiedete mich von Narayan und von Gunepala.
    Als ich in den Wagen stieg, sagte man mir, nachdem ich den Indischen Ozean und den Golf von Aden und das Rote Meer durchquert hätte und durch den Suezkanal in das Mittelmeer gelangt wäre, würde ich eines Morgens an einem kleinen Pier in England anlegen, und dort würde meine Mutter mich abholen. Was meine Gedanken beschäftigte, waren weder die Dauer noch die Magie der Reise, sondern es war die Frage, wie meine Mutter wissen sollte, wann genau ich in jenem fremden Land ankommen würde.
    Und ob sie dasein würde.

 
     
     
    ICH HÖRTE , wie ein Zettel unter meine Tür geschoben wurde. Auf dem Zettel wurde mir für alle Mahlzeiten Tisch Nr. 76 zugeteilt. Die zweite Koje war unbenutzt. Ich zog mich an und ging hinaus. Treppenstufen war ich nicht gewohnt, und ich betrat sie vorsichtig.
    Im Speiseraum saßen neun Leute an Tisch Nr. 76, darunter zwei Jungen etwa meines Alters.
    »Wir sitzen offenbar am Katzentisch«, sagte die Frau, die als Miss Lasqueti angesprochen wurde. »Wir haben den unattraktivsten Tisch bekommen.«
    Es war nicht zu übersehen, dass wir in weiter Entfernung zum Tisch des
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