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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
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bildete. Mit solchen Familienurteilen wuchs ich auf, und ihnen verdankte ich meine Vorsicht, bis ich ihrem Umfeld entkam.
    Aber da war immer Emily, meine machang , die eine Zeitlang fast nebenan wohnte. Vergleichbar an unserer Kindheit war der Umstand, dass unsere Eltern entweder an verschiedenen Orten lebten oder unzuverlässig waren. Ihr Familienleben war allerdings, wie ich argwöhne, schlimmer als meines – die Geschäfte ihres Vaters waren immer prekärer Natur, und die Familie lebte in ständiger Furcht vor seinen Zornesausbrüchen. Seine Frau unterwarf sich knechtisch seiner Herrschaft. Emilys spärlichen Auskünften entnahm ich, dass er gerne strafte. Selbst Erwachsene auf Besuch fühlten sich in seiner Gegenwart nicht sicher. Nur Kinder, die sich für eine Geburtstagsfeier kurzfristig in seinem Haus aufhielten, fanden die Unberechenbarkeit seines Betragens lustig. Er kam hergeschlendert, erzählte uns etwas Komisches und schubste uns dann in den Swimmingpool. Emily war in seiner Gegenwart nervös, selbst wenn er sie liebevoll in die Arme nahm und mit ihr tanzte, ihre nackten Füße auf seinen Schuhen.
    Die meiste Zeit war ihr Vater mit seiner Arbeit beschäftigt oder einfach nicht da. Weil es keine zuverlässige Karte gab, an der sie sich orientieren konnte, erfand Emily sich selbst, wie ich vermute. Sie hatte einen ungezähmten Geist, eine Wildheit, die mich bezauberte, auch wenn sie gewagte Abenteuer einging. Zuletzt bezahlte Emilys Großmutter ihr den Aufenthalt in einem Internat in Südindien, so dass sie von der Gegenwart ihres Vaters befreit war. Mir fehlte sie. Und als sie in den Sommerferien zurückkam, sah ich sie nicht oft, denn sie hatte einen Ferienjob bei der Ceylon Telephone angenommen. Jeden Morgen holte ein Firmenwagen sie ab, und jeden Abend setzte ihr Chef Mr. Wijebahu sie zu Hause ab. Von Mr. Wijebahu hieß es, wie sie mir anvertraute, er habe drei Hoden.
    Was uns beide mehr als alles andere verband, war Emilys Schallplattensammlung, all die Lebensläufe und Sehnsüchte, die in den zwei, drei Minuten eines Songs gereimt und konzentriert waren. Bergarbeiterhelden, schwindsüchtige Mädchen, die über Pfandhäusern wohnten, Abenteurerinnen, berühmte Kricketspieler und sogar der Sachverhalt, dass es keine Bananen mehr gab. Sie hielt mich manchmal wohl für einen Träumer und brachte mir das Tanzen bei, lehrte mich, sie um die Taille zu halten, während sie die erhobenen Arme bewegte, und mit ihr auf und über das Sofa zu springen, das unter unserem Gewicht schwankte und umkippte. Dann war sie plötzlich wieder weg, in der Schule, weit weg in Indien, und man hörte nichts mehr von ihr, nur hin und wieder bekam ihre Mutter Briefe, in denen sie um mehr Kuchen bat, der über das belgische Konsulat geschickt werden sollte, und ihr Vater ließ es sich nicht nehmen, diese Briefe allen Nachbarn voller Stolz vorzulesen.
    Als Emily an Bord der Oronsay kam, hatte ich sie zwei Jahre lang nicht gesehen. Es war verstörend, sie nun soviel deutlicher zu sehen, mit prononcierteren Zügen, und eine Anmut wahrzunehmen, die ich zuvor nicht erkannt hatte. Sie war inzwischen siebzehn Jahre alt, die Schule hatte sie offenbar in mancher Hinsicht gezähmt, und sie sprach mit leicht schleppender Stimme, was mir gefiel. Dass sie mich an der Schulter festhielt, als ich auf dem Promenadendeck an ihr vorbeirannte, und mich nötigte, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, verlieh mir bei meinen zwei neuen Freunden auf dem Schiff ein gewisses Prestige. Aber meistens gab sie unmissverständlich zu erkennen, dass sie keine Gesellschaft wünschte. Sie hatte ihre eigenen Pläne für diese Reise … wenige allerletzte Wochen der Freiheit, bevor sie in England ankam, um dort ihre letzten zwei Schuljahre zu absolvieren.
     
    Die Freundschaft zwischen dem stillen Ramadhin, dem überschwenglichen Cassius und mir machte schnell Fortschritte, obwohl wir vieles für uns behielten. Auf mich jedenfalls trifft das zu. Was ich in der Rechten hielt, wurde der Linken nie enthüllt. In vorsichtigem Verhalten war ich bereits geübt. In den Internaten, die ich kannte, entwickelte man aus Furcht vor Strafen Geschick im Lügen, und ich hatte gelernt, bestimmte kleine Wahrheiten zu verschweigen. Manche von uns wurden, wie sich erwies, durch die Strafen keineswegs zu völliger Ehrlichkeit angespornt oder gezwungen. Mir kam es vor, als würden wir die ganze Zeit wegen schlechten Betragens oder wegen aller möglichen Missetaten geschlagen (drei Tage
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