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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
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Kapitäns untergebracht waren, der sich am anderen Ende des Raums befand. Einer der zwei Jungen an unserem Tisch hieß Ramadhin, der andere Cassius. Ramadhin war ein stiller Junge, der andere blickte hochmütig um sich, und wir ignorierten einander, obwohl ich ihn kannte. Cassius und ich hatten dieselbe Schule besucht, und obwohl er ein Jahr älter war als ich, wusste ich eine Menge über ihn. Er hatte einen schlechten Ruf genossen und war sogar für ein Halbjahr von der Schule verwiesen worden. Ich war mir sicher, dass es lange dauern würde, bis wir ein Wort wechselten. Aber das Gute an unserem Tisch war, dass es offenbar verschiedene interessante Erwachsene gab. Wir hatten einen Botaniker unter uns und einen Schneider, der einen Laden in Kandy besaß. Und das Tollste war, dass wir einen Pianisten unter uns hatten, der heiter erklärte, er sei »auf den Hund gekommen«.
    Das war Mr. Mazappa. Abends spielte er mit dem Schiffsorchester, und nachmittags gab er Klavierstunden. Dafür bekam er Rabatt auf die Reisekosten. Nach unserer ersten Mahlzeit unterhielt er Ramadhin, Cassius und mich mit Anekdoten aus seinem Leben. Durch das Zusammensein mit Mr. Mazappa, der uns mit verwirrenden und oft genug obszönen Liedern aus seinem Repertoire unterhielt, fanden wir drei zu einem ungezwungenen Umgang miteinander, denn wir waren schüchtern und linkisch. Keiner von uns hatte Anstalten getroffen, die anderen auch nur zu grüßen, bis Mazappa uns unter seine Fittiche nahm und uns riet, Augen und Ohren offenzuhalten, da diese Reise uns viel lehren würde. Und so entdeckten wir am Ende dieses ersten Tages, dass wir gemeinsam neugierig sein konnten.
    Ein anderer interessanter Gast am Katzentisch war Mr. Nevil, ein Schiffsabwracker im Ruhestand, der nach längerer Zeit im Orient nach England zurückkehrte. Wir waren gern mit diesem massigen und sanftmütigen Mann zusammen, weil er eingehend über die Beschaffenheit von Schiffen Bescheid wusste. Er hatte viele berühmte Schiffe abgewrackt. Im Unterschied zu Mr. Mazappa war Mr. Nevil bescheiden und sprach von diesen Episoden seines Lebens nur, wenn man es geschickt darauf anlegte, eine Geschichte aus ihm herauszukitzeln. Hätte er weniger bescheiden auf die Fragen geantwortet, mit denen wir ihn bombardierten, hätten wir ihm nicht geglaubt oder wären nicht so fasziniert gewesen.
    Er hatte überall auf dem Schiff freien Zugang, denn er war von der Schiffahrtsgesellschaft mit Sicherheitsuntersuchungen betraut. Er machte uns mit seinen Hilfstruppen im Maschinenraum und mit den Heizern bekannt, und wir sahen ihnen bei der Arbeit zu. Verglichen mit der ersten Klasse herrschten im Maschinenraum unten im Hades unerträglicher Lärm und furchtbare Hitze. Eine zweistündige Inspektion der Oronsay mit Mr. Nevil klärte einen über alle größeren und kleineren Fährnisse auf. Er erklärte uns, dass die Rettungsboote, die in der Luft schaukelten, nur gefährlich aussahen , und deshalb kletterten Cassius, Ramadhin und ich oft hinein, um von dort aus die Passagiere heimlich zu beobachten. Miss Lasquetis Bemerkung, wir säßen am »unattraktivsten« Platz, der keinerlei gesellschaftliche Bedeutung besaß, hatte uns davon überzeugt, wir wären für Amtspersonen wie den Purser, den Chefsteward oder den Kapitän unsichtbar.
     
    Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass eine entfernte Cousine, Emily de Saram, sich ebenfalls auf dem Schiff befand. Leider war ihr nicht der Katzentisch zugewiesen worden. Jahrelang war Emily der Umweg gewesen, über den ich herausgefunden hatte, was die Erwachsenen von mir dachten. Ich erzählte ihr meine Abenteuer und nahm mir zu Herzen, was sie sagte. Sie sagte ehrlich, was sie mochte und was sie nicht mochte, und da sie älter war, bildeten ihre Urteile für mich eine Richtschnur.
    Da ich weder Brüder noch Schwestern hatte, waren die engsten Verwandten in meiner Kindheit Erwachsene. Es gab eine Kollektion lediger Onkel und bedächtiger Tanten, eng verbunden durch Klatsch und gesellschaftlichen Status. Es gab einen einzigen reichen Verwandten, der großen Wert darauf legte, im Hintergrund zu bleiben. Niemand konnte ihn leiden, aber alle hatten Hochachtung vor ihm und sprachen dauernd von ihm. Die Familienmitglieder pflegten die Weihnachtskarten, die er jedes Jahr pflichtschuldig schickte, zu begutachten und erörterten das Aussehen seiner heranwachsenden Kinder auf dem Foto und die Größe seines Hauses, das wie eine stumme prahlerische Geste den Hintergrund
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