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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben
Autoren: Aufbau
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|7| April 1980
    Auf einem Regal über unserem Küchentisch standen zwei Gläser. Eines für meine kleine Schwester Ingrid, das andere für mich. Auf meinem war ein Bild vom Krümelmonster und auf Ingrids Kermit, der Frosch, dem beim Abwaschen ein Auge abhandengekommen war. Immer wenn Mutter der Meinung war, dass wir Mist gebaut hatten, legte sie zwei, drei oder mehr schwarze Murmeln in das jeweilige Glas, und wenn es schließlich voll war, war es an der Zeit für eine Tracht Prügel. An manchen Tagen füllte sich mein Glas, weil ich zu spät vom Spielen heimkam, an anderen konnte ich anstellen, was ich wollte, ohne dass Mutter eine Murmel hineinwarf. Die Gläser sagten eher wenig über unser Verhalten aus, sondern waren mehr ein Barometer für Mutters Launen.
    Sobald keine Murmel mehr hineinpasste, rief Mutter uns in die Küche, stellte das Glas auf den Tisch und legte mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck, als sei es ein Experiment, eine letzte Murmel auf den Stapel. Wenn diese dann sofort herunterkullerte, sah Mutter uns merkwürdig mitfühlend an, als wolle sie sagen: »Tut mir leid, aber ihr seht es ja: Das Glas ist voll. Was soll ich machen?«
    Backpfeifen waren an der Tagesordnung. So sorgte Mutter für Ruhe, wenn ihr Situationen zu hektisch wurden. Mir war das egal, aber Ingrid weinte viel. Die Ohrfeigen, die sie verpasst bekam, brannten oft schlimmer auf meiner Haut oder darunter als die, die ich selbst kassierte.
     
    Wir lebten in einer Bruchbude. Die Tür zu unserer Wohnung musste man erst mit einem Ruck zu sich heranziehen, bevor |8| man sie öffnen konnte; ließ man die Klinke dann aber los, fiel sie von selbst auf. Einen Flur gab es nicht, sondern man stand sofort in der Küche, deren Dielenboden bei jedem Schritt knarrte wie die Planken eines alten Kahns. Zwischen den verzogenen Brettern hatten sich Staub und Schmutz angesammelt, und als einmal Besuch vom Jugendamt bevorstand, hatte Mutter Ingrid und mir Zahnbürsten in die Hand gedrückt, mit denen wir den Dreck aus den Ritzen kratzen sollten. Vom Rahmen des Fensters platzte die Farbe ab, und die Vorhänge waren eher Stofffetzen, mit ausgefranstem Saum. Mutter sprach regelmäßig davon, die roh verputzten und in einem hellen Grün angepinselten Wände neu zu streichen, kümmerte sich aber letzten Endes doch nie darum. Eine Stelle, an der der Putz abgebröselt und das nackte Mauerwerk zum Vorschein gekommen war, hatte sie mit einem Casablanca-Filmplakat überklebt, das sie beim Rauchen oft ansah. Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß sie dann da, hatte den Ellenbogen aufs Knie gestützt, die Zigarette in der einen, den Aschenbecher in der anderen Hand, und starrte in die Ferne, irgendwo hinter das Plakat. In solchen Momenten hielt sie die Kippe weniger schluffig als sonst, mehr wie eine Dame. Bevor sie die Zigarette ausdrückte, schien es manchmal, als zwinkere sie dem Kerl auf dem Plakat wie zum Abschied zu. Einmal habe ich sie ihre Lippen bewegen sehen, als würde sie mit ihm reden, doch er schaute unverändert an ihr vorbei. Seinen Blick bekam man nie ganz zu fassen. Das eine oder andere Mal habe ich mir den Hals bei dem Versuch verrenkt, den richtigen Winkel zu finden, um seinen Blick einzufangen.
     
    Ein Perlenvorhang trennte die Küche vom fensterlosen Wohnzimmer, in dem es immer ein wenig muffig roch, weil es gleichzeitig Mutters Schlafzimmer war. An der Längsseite stand ein Klappsofa, bei dem, genau wie an den dazugehörenden Sesseln, hier und da der Schaumstoff herausguckte. Der geflieste Tisch war ständig mit Glasabdrücken und Tabakbröseln |9| übersät, und den Wohnzimmerschrank, auf dessen Ablagen planlos verteilt Vasen, Porzellanfigürchen und andere Staubfänger standen, hatte Mutter zum Kleiderschrank umfunktioniert. An den ansonsten leeren Wänden hingen zwei Fotos von Ingrid und mir. Mein Bild habe ich immer zu ignorieren versucht.
    An dem Tag, als der Fotograf bei uns in der Schule war, wollte ich nicht fotografiert werden, aber schließlich schob mich die Lehrerin meinem Gemaule zum Trotz vor die Kamera. Als der Fotograf dann nicht von mir verlangte, zu lächeln, sondern wollte, dass ich meinen Namen sagte, nölte ich »Rick«, war ihm dabei aber zu schnell und sollte es wiederholen. Meine Lehrerin bestand darauf, dass ich nicht »Rick«, sondern »Richard« sagte, also schnappte ich nach Luft und sagte patzig »Riiichaaahaaard«. Der Fotograf knipste während des zweiten A, sodass ich mit aufgerissenem Mund auf dem Foto zu
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