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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
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Gefangenen Bescheid?«
    Es stellte sich heraus, dass sie genauso froh war wie ich, die Smalltalk-Ebene verlassen zu können, und sie richtete sich auf ein etwas längeres Gespräch als beabsichtigt ein. »Nimm dir noch Tee«, murmelte sie, und ich nahm mir Tee, obwohl er mir nicht schmeckte. In vertraulichem Ton sagte sie, sie habe von dem Gefangenen gehört, obwohl man so geheimnisvoll tue. »Er wird schwer bewacht. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Es gibt sogar einen ranghohen britischen Offizier an Bord.«
    Aufgeregt beugte ich mich zu ihr vor. »Ich habe ihn gesehen«, prahlte ich. »Spätnachts beim Herumgehen. Schwer bewacht.«
    »Was du nicht sagst …« meinte sie in gedehntem Ton, aus dem Konzept gebracht durch mein As, das ich so schnell und unerwartet ausgespielt hatte.
    »Er soll ein schreckliches Verbrechen begangen haben«, sagte ich.
    »Ja. Er soll einen Richter ermordet haben.«
    Das war eindeutig mehr als ein As. Ich starrte sie mit offenem Mund an.
    »Einen englischen Richter. Mehr darf ich wahrscheinlich nicht ausplaudern«, fügte sie hinzu.
    Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, der in Colombo mein Vormund war, war Richter, obwohl er Ceylonese und nicht Engländer war. Ein englischer Richter hätte nicht an einem Gericht der Insel amtieren können, er musste also zu Besuch gekommen sein oder als Berater oder Gutachter hinzugezogen worden sein … Dies in etwa erzählte mir Flavia Prins, und einiges reimte ich mir später mit Ramadhins Hilfe zusammen, denn er besaß einen ruhigen und klaren Verstand.
    Vielleicht hatte der Gefangene den Richter ermordet, um zu verhindern, dass er der Staatsanwaltschaft unter die Arme griff. Zu gern hätte ich in jenem Augenblick mit meinem Onkel in Colombo gesprochen. Ich machte mir tatsächlich Sorgen, dass sein Leben in Gefahr sein könnte . Er soll einen Richter ermordet haben! Die Worte hallten in meinem Kopf wider.
    Mein Onkel war ein massiger, umgänglicher Mann. Ich hatte bei ihm und seiner Frau in Boralesgamuwa gelebt, seit meine Mutter einige Jahre zuvor nach England gegangen war, und obwohl wir uns nie weder ausführlich noch kurz auf vertraute Weise unterhalten hatten und er durch seine öffentliche Funktion beansprucht war, spürte ich seine Zuneigung und fühlte mich bei ihm gut aufgehoben. Wenn er nach Hause kam und sich Gin einschenkte, durfte ich den Wermut in sein Glas geben. Ich hatte seine Geduld nur ein einziges Mal strapaziert. Er hatte bei einem aufsehenerregenden Mordfall, in den ein Kricketspieler verwickelt war, den Vorsitz innegehabt, und ich hatte meinen Freunden erklärt, der Mann auf der Anklagebank sei unschuldig; als sie mich fragten, woher ich das wissen wolle, sagte ich, mein Onkel habe das gesagt. Ich tat es weniger im Bewusstsein zu lügen als in dem Wunsch, meinen Glauben an den Krickethelden zu untermauern. Als mein Onkel davon erfuhr, lachte er nur, aber er gab mir deutlich zu verstehen, dass ich so etwas nie wieder tun solle.
    Zehn Minuten nach der Rückkehr zu meinen Freunden auf Deck D berichtete ich Cassius und Ramadhin haarklein alles, was ich von der Geschichte des Mörders erfahren hatte. Ich redete davon am Schwimmbecken, und ich redete davon an der Tischtennisplatte. Später am Nachmittag packte mich allerdings Miss Lasqueti am Schlafittchen, nachdem ihr mein Gerede zu Ohren gekommen war, und erschütterte mein Vertrauen in Flavia Prins’ Version der Geschichte. »Vielleicht hat er so etwas getan oder auch nicht«, sagte sie. »Man soll nie glauben, was vielleicht nur ein Gerücht ist.« Daher kam mir der Gedanke, Flavia Prins könnte sein Verbrechen aufgebauscht und die Messlatte angehoben haben, weil ich den Gefangenen tatsächlich mit eigenen Augen gesehen hatte, und deshalb hatte sie womöglich ein Verbrechen gewählt, das mich nicht unbeteiligt ließ – den Mord an einem Richter. Wäre der Bruder meiner Mutter Apotheker gewesen, wäre ein Apotheker ermordet worden.
     
    An jenem Abend machte ich die erste Eintragung in mein Schulheft. Im Delilah-Salon war es zu einem kleinen Auflauf gekommen, als ein Passagier beim Kartenspielen seine Frau tätlich angegriffen hatte. Beim Ausspielen von Herz war sie mit dem Spott zu weit gegangen. Er hatte sie zu erwürgen versucht und ihr dann eine Gabel durch das Ohr gebohrt. Es gelang mir, dem Purser auf den Fersen zu bleiben, als er die Ehefrau einen engen Gang entlang zur Krankenstation begleitete, eine Serviette an ihrem Ohr, um die Blutung zu stillen, während der
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