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Grant County 05 - Gottlos

Grant County 05 - Gottlos

Titel: Grant County 05 - Gottlos
Autoren: Karin Slaughter
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EINS
    Sara Linton stand vor der Haustür ihrer Eltern. In den Händen hielt sie so viele Einkaufstüten, dass ihre Finger taub wurden. Sie wollte die Tür mit dem Ellbogen aufdrücken, aber alles, was sie damit erreichte, war, dass sie sich an der Scheibe stieß. Sie machte einen Schritt zurück und versuchte, die Tür mit einem Fußtritt zu öffnen, wieder umsonst. Schließlich gab sie auf und klopfte mit der Stirn gegen die Scheibe.
    Durch das geriffelte Glas beobachtete sie, wie ihr Vater durch den Flur kam. Er öffnete ihr, ganz untypisch für ihn, mit einem ausgesprochen mürrischen Gesicht.
    «Kannst du nicht zweimal gehen?», fragte Eddie und nahm ihr ein paar Tüten ab.
    «Warum ist die Tür nicht offen?»
    «Vom Auto sind es gerade mal fünf Meter.»
    «Dad», entgegnete Sara, «warum habt ihr die Tür abgeschlossen?»
    Er sah über ihre Schulter hinweg. «Dein Wagen ist dreckig», sagte er und stellte die Tüten wieder ab. «Meinst du, du schaffst es, zweimal in die Küche zu gehen?»
    Er war schon wieder an ihr vorbei, bevor Sara etwas erwidern konnte. «Wo willst du hin?»
    «Dein Auto waschen.»
    «Draußen ist es eiskalt.»
    Eddie drehte sich um und blickte sie vielsagend an. «Dreck klebt, egal wie der Wind steht.» Er klang dabei wie ein Schauspielerin einem Shakespeare-Stück, nicht wie ein Klempner aus einer Kleinstadt in Georgia.
    Bevor Sara etwas sagen konnte, war er in der Garage verschwunden, um das Putzzeug zu holen.
    Als er sich bückte, um den Eimer mit Wasser zu füllen, sah Sara, dass er eine ihrer alten Jogginghosen aus Highschool-Zeiten, als sie in der Leichtathletikmannschaft gewesen war, anhatte.
    «Willst du den ganzen Tag da rumstehen und die Kälte reinlassen?» Cathy zog Sara ins Haus und schloss die Tür.
    Sara beugte sich zu ihr hinunter und ließ sich auf die Wangen küssen. Zu ihrem großen Kummer hatte sie ihre Mutter schon in der fünften Klasse um einen Kopf überragt. Saras kleine Schwester Tessa hingegen hatte die zierliche Figur, das blonde Haar und die natürliche Anmut ihrer Mutter geerbt. Neben den beiden sah Sara aus, als sei sie ein Nachbarskind, das eines Tages zum Mittagessen gekommen und einfach geblieben war.
    Cathy griff nach den Supermarkttüten, überlegte es sich dann aber anders. «Trägst du die bitte?»
    Folgsam lud Sara sich erneut alle acht Tüten auf, ohne Rücksicht auf ihre Finger zu nehmen. «Was ist hier eigentlich los?», fragte sie. Ihre Mutter wirkte irgendwie angeschlagen.
    «Isabella», seufzte Cathy, und Sara verkniff sich ein Grinsen. Ihre Tante Bella war die einzige Sara bekannte Person, die mit einem eigenen Alkoholvorrat anreiste.
    «Rum?»
    «Tequila», flüsterte Cathy in einem Ton, in dem andere Leute «Krebs» sagen würden.
    Eine Welle von Sympathie stieg in Sara auf. «Hat sie gesagt, wie lange sie bleibt?»
    «Noch nicht.» Bella hasste Grant County und war seit Tessas Geburt nicht mehr hier gewesen. Vor zwei Tagen war sie unangekündigt aufgetaucht, mit drei großen Taschen im Kofferraum ihres Mercedes Cabrio und ohne ein Wort der Erklärung.
    Früher wäre Bella mit so viel Geheimniskrämerei nicht durchgekommen, doch seitdem das neue Motto der Lintons «Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen» lautete, hatte sie niemand weiter mit Fragen bedrängt. Seit dem Überfall auf Tessa im letzten Jahr war alles anders geworden. Es war, als stünden sie alle noch immer unter Schock, auch wenn offenbar keiner von ihnen darüber reden wollte. Im Bruchteil einer Sekunde hatte der Täter nicht nur Tessas Leben, sondern das der ganzen Familie verändert. Sara fragte sich oft, ob sie sich jemals davon erholen würden.
    «Warum war die Tür abgeschlossen?», fragte Sara.
    «Das muss Tessa gewesen sein.» Einen Moment lang standen Tränen in Cathys Augen.
    «Mama …»
    «Geh schon mal rein», wehrte Cathy ab und zeigte zur Küche. «Ich komme gleich nach.»
    Sara nahm die Tüten und ging durch den Flur nach hinten. Dabei glitt ihr Blick über die Fotos an den Wänden, die sie und Tessa in ihren Mädchenjahren zeigten. Natürlich sah Tessa auf den meisten Bildern schlank und hübsch aus. Sara war dieses Glück nicht beschieden. Das schlimmste Foto zeigte sie im Sommerlager in der achten Klasse. Sie hätte es sofort von der Wand gerissen, wenn sie damit irgendwie durchgekommen wäre. Sara war stehend in einem Ruderboot aufgenommen worden. Der Badeanzug hing ihr wie Teerpappe von den knochigen Schultern, und auf ihrer Nase leuchteten unförmige
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