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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
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und mit ihm durch Gloucestershire gedüst. Es gab einen Unfall, bei dem sie sich den Arm brach, und als Folge dieses Zwischenfalls wurde sie von der Schule verwiesen. Seitdem galt sie nicht mehr als vertrauenswürdiges Mitglied dieser engverbundenen asiatischen Gemeinschaft. Schließlich befreite sie sich von alledem, indem sie Desmond heiratete. Die Hochzeit musste schnell über die Bühne gehen, denn Desmond hatte eine Stelle im Ausland angeboten bekommen, die für ihn freigehalten wurde, und bald danach reisten sie ab. Und als ihre Ehe schließlich ein Ende fand, entschied Emily sich aus welchem traurigen Grund auch immer für dieses Exil auf der stillen Insel an der kanadischen Westküste.
    Verglichen mit dem Leben, das sie und ich uns in unserer Jugend wahrscheinlich vorgestellt hatten, wirkte dieses Leben fast unwirklich. Ich hatte noch Bilder von uns im Kopf, wie wir auf dem Fahrrad vom Monsunregen gepeitscht wurden oder wie Emily im Schneidersitz auf dem Bett saß und von ihrer Schule in Indien erzählte oder wie ihre mageren braunen Arme mir zuwinkten, während wir tanzten. Daran dachte ich, als ich nun neben ihr herging.
    »Wie lange bleibst du hier im Westen?«
    »Nur noch heute. Morgen fliege ich zurück«, sagte ich.
    »Wohin? Wohin geht es?«
    Es war mir ein bisschen peinlich. »Du wirst lachen, nach Honolulu.«
    »Hon-o-lu-lu!« Sie dehnte die Silben wehmütig.
    »Tut mir leid.«
    »Nein, ist schon recht. Ist schon recht. Danke, dass du gekommen bist, Michael.«
    Ich sagte: »Du hast mir einmal geholfen. Erinnerst du dich?«
    Meine Cousine schwieg. Entweder erinnerte sie sich an den Morgen in ihrer Kabine, oder sie hatte ihn vergessen. Jedenfalls schwieg sie, und ich drang nicht weiter in sie.
    »Kann ich irgendwas für dich tun?« fragte ich, und sie sah mich von der Seite mit einem Lächeln an, dem ich entnahm, dass sie dieses Leben weder für sich erwartet noch freiwillig gewählt hatte.
    »Nein, Michael. Du kannst mir nicht dazu verhelfen, das alles zu verstehen. Du kannst mich nicht so lieben, dass ich mich je sicher fühlen würde.«
    Wir schlüpften gebückt unter den Ästen der Lebensbäume hindurch, gingen die Holzstufen hinunter und betraten das Häuschen durch die grüne Haustür. Wir waren beide müde, wollten aber wach bleiben. Wir traten auf die Veranda hinaus.
    »Ohne die Fähre wäre ich völlig orientierungslos. Dann hätte ich überhaupt kein Zeitgefühl …«
    Sie schwieg eine Weile.
    »Er ist gestorben, weißt du.«
    »Wer?«
    »Mein Vater.«
    »Das tut mir leid.«
    »Ich muss es jemandem sagen, der ihn gekannt hat … der weiß, wie er war. Ich hätte zu seiner Beerdigung nach Hause fliegen sollen. Aber ich gehöre dort nicht mehr hin. Ich bin wie du.«
    »Ich nehme an, dass wir nirgends hingehören.«
    »Kannst du dich überhaupt an ihn erinnern?«
    »Ja. Man konnte es ihm nie recht machen, nie. Ich erinnere mich an seine Wutausbrüche. Aber er hat dich geliebt.«
    »Ich habe mich meine ganze Kindheit über gefürchtet. Zum letztenmal habe ich ihn gesehen, bevor ich als Teenager wegfuhr …«
    »Ich erinnere mich daran, wie du mir deine Alpträume erzählt hast.«
    Sie begann sich abzuwenden, als wollte sie allein darüber nachdenken. Sie entzog sich, aber ich wollte, dass sie die Vergangenheit nicht auf sich beruhen ließ. Deshalb versuchte ich das Gespräch wieder auf unsere Zeit auf dem Schiff zu bringen, auf das, was gegen Ende unserer Fahrt passiert war.
    »Hast du dich auf der Oronsay irgendwie in dem Mädchen wiedergefunden, mit dem du dich damals angefreundet hattest? Die Tochter des Gefangenen. Auch sie war in das Leben ihres Vaters verstrickt.«
    »Kann sein. Aber ich glaube, ich wollte ihr bloß helfen. Verstehst du?«
    »Als du in dieser Nacht neben dem Rettungsboot warst, zusammen mit dem Geheimpolizisten – Perera –, da habe ich alles mitgehört. Ich habe gehört, was passiert ist.«
    »Du hast es gehört? Warum hast du mir das nicht gesagt?«
    »Das habe ich. Ich bin am nächsten Morgen zu dir gegangen. Du konntest dich an nichts erinnern. Du warst schläfrig, wie betäubt.«
    »Ich sollte versuchen, irgendwas von ihm zu bekommen … für die beiden. Aber ich war so benommen.«
    »Der Mann ist in dieser Nacht ermordet worden. Hattest du das Messer?«
    Sie schwieg.
    »Außer dir war niemand da.«
    Wir standen nahe nebeneinander, in unsere Mäntel eingemummt. Ich hörte die Wellen im Dunkeln ans Ufer klatschen.
    »Doch, es war jemand da«, sagte sie. »Die Tochter,
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