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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
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betäubt oder bewusstlos gemacht. Damit du dich an nichts erinnerst. In dem Garten gab es giftige Pflanzen.«
    »In diesem schönen Garten?«
    Emily hatte den Blick auf ihre Hände gesenkt gehalten. Plötzlich bewegte sie sich und starrte mich an, als wäre alles, woran sie geglaubt hatte, alles, was ihr seit Jahren Halt gegeben hatte, eine Lüge gewesen. »Ich habe immer geglaubt, ich hätte ihn umgebracht«, sagte sie leise. »Vielleicht war es auch so.«
    »Cassius und ich haben gedacht, du hättest ihn umgebracht«, sagte ich. »Wir haben den Toten gesehen. Aber ich glaube nicht, dass du es warst.«
    Sie beugte sich vor und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. So verharrte sie eine ganze Weile. Ich beobachtete sie und sagte nichts.
    »Danke.«
    »Aber du hast ihnen bei der Flucht geholfen. Und deshalb sind Niemeyer und das Mädchen gestorben.«
    »Vielleicht.«
    »Was heißt: Vielleicht?«
    »Vielleicht heißt vielleicht.«
    Unversehens wurde ich zornig. »Asuntha hatte ein ganzes Leben vor sich. Sie war noch ein Kind.«
    »Sie war siebzehn. Wie ich. Wir wurden alle erwachsen, bevor wir erwachsen waren. Denkst du je darüber nach?«
    »Sie hat nicht einmal geschrien.«
    »Sie konnte nicht schreien. Sie hatte den Schlüssel im Mund. Dort hat sie ihn verborgen. Nachdem er Perera abgenommen worden war. Das war es, was sie für ihre Flucht brauchten.«

 
     
     
    ICH ERWACHTE AUF DEM BETTSOFA . Es gab keine Vorhänge, und Licht erfüllte das ganze Zimmer. Emily saß in dem Sessel und sah mich an, als bemerkte sie, was nach all den Jahren aus mir geworden war, als korrigierte sie ihre Einschätzung des ungehorsamen Jungen, der eine gewisse Zeit seiner Jugend in ihrer Nähe verbracht hatte. Irgendwann im Verlauf der vorausgegangenen Nacht hatte sie mir gesagt, sie habe meine Bücher gelesen, und jedesmal wenn sie in einem blättere, sei sie damit beschäftigt, sich einen Reim darauf zu machen – fiktive Geschehnisse mit dem echten Schauspiel zu vergleichen, das sich in ihrer Gegenwart ereignet hatte, oder ein Erlebnis in einem Garten mit dem echten Garten meines Onkels an der High Level Road. Wir hatten die Plätze getauscht. Sie wurde nicht mehr von ergebenen Verehrern umschwärmt. Ich war nicht mehr Gast am Katzentisch. Doch Emily war für mich noch immer das unergründliche Gesicht.
    Ein Schriftsteller, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, schrieb einmal von der »verwirrenden Anmut« eines Menschen. So ist Emily mir immer erschienen, unsicher trotz ihrer Wärme. Man vertraute ihr, aber sie traute sich selbst nicht. Sie war ein »guter Mensch«, aber in ihren eigenen Augen war sie das nicht. Ihre Eigenschaften hatten noch kein Gleichgewicht gefunden, keine Harmonie.
    Da saß sie, die Haare aufgesteckt, die Arme um die Knie geschlungen. Im Morgenlicht war ihr Gesicht auf menschlichere Weise schön. Was will ich damit sagen? Vielleicht, dass ich in diesem Augenblick alle Facetten ihrer Schönheit entziffern konnte. Sie war mit sich im reinen, ihre Miene gab mehr von ihr preis. Und ich begriff, wie die dunkleren Aspekte ihrer Persönlichkeit in diese Großzügigkeit einbegriffen waren. Nähe war nicht ausgeschlossen. Ich weiß nun, dass Emily den größten Teil meines Lebens diejenige war, die ich auf keinen Fall verlieren wollte, unabhängig von allen Entfremdungen und Trennungen.
    »Du darfst deine Fähre nicht verpassen«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Jetzt weißt du, wo ich lebe. Komm mich wieder besuchen.«
    »Das werde ich tun.«

Der Schlüssel in seinem Mund
    EMILY FUHR MICH ZUM HAFEN , und ich reihte mich in die Schar der Passagiere ein. Sie verabschiedete sich von mir im Wagen und stieg nicht aus; sie fuhr nicht weg, und durch die Windschutzscheibe, hinter deren Gleißen sie für mich unsichtbar war, sah sie wohl, wie ich weiterging. Ich stieg die Stufen zum Oberdeck hinauf und blickte zu der Insel zurück, zu den am Hügel verstreuten Häuschen und dem roten Wagen am Kai, in dem sie saß. Die Fähre tat einen Ruck, und wir legten ab. Es war kalt, aber ich blieb draußen auf dem Oberdeck. Eine Fahrt mit der Fähre von zwanzig Minuten Dauer, die wie ein Echo war, wie ein kleiner Vers aus der Vergangenheit, wie meine Cousine Emily es für mich an dem vergangenen Tag und in der vergangenen Nacht gewesen war.
    Ich hatte einmal einen Freund, dessen Herz nach einem traumatischen Erlebnis, das er sich nicht eingestehen wollte, »einen Sprung« getan hatte. Erst Jahre später, als sein Arzt ihn eines
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