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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
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anderen harmlosen Leidens wegen untersuchte, wurde diese körperliche Veränderung entdeckt. Und als er mir das damals erzählte, fragte ich mich, wie viele von uns ein versetztes Herz haben, das sich um einen Millimeter oder sogar weniger von dem Ort, an dem es sich ursprünglich befand, an eine andere Stelle verrückt, eine Neupositionierung vornimmt, von der wir nichts wissen. Emily. Ich selbst. Vielleicht sogar Cassius. Wie kam es dazu, dass unsere Gefühle seither an den anderen abzuprallen scheinen, statt sie unmittelbar zu betreffen, mit dem Ergebnis schlichter Achtlosigkeit oder – in manchen Fällen – kaltblütigen Dünkels, mit dem wir uns selbst beschädigen? Sind wir deshalb an einem Katzentisch geblieben, nach wie vor ratlos und damit beschäftigt, zurückzublicken, zurückzublicken und immer noch, heute noch, in unserem Alter, nach jenen Ausschau zu halten, die unsere Reisekameraden waren und uns geformt haben?
    Und dann dachte ich zum erstenmal seit Jahren an Ramadhins unberechenbares flimmerndes Herz, dessen er sich so bewusst gewesen war und mit dem er auf jener Reise so behutsam umgegangen war, als behandelte er sich selbst wie jemanden in einem Inkubator, während Cassius und ich fröhlich und potentiell gefährlich um ihn herumliefen. So viel Zeit war vergangen seit jener Reise und seit den Nachmittagen mit ihm in Mill Hill. Aber es war Ramadhin, der Bedächtige, der nicht überlebt hatte. Was war also besser für uns alle – Unwissenheit oder Umsicht wie die seine unserem Herzen gegenüber?
    Ich stand noch immer auf dem Oberdeck der Fähre und blickte über das Heck zu jener grünen Insel zurück. Stellte mir Emily vor, wie sie den gewundenen Weg zu ihrem neuen Zuhause zurückfuhr, so fern dem Ort, an dem sie geboren war. Ein Häuschen an einer Küste in gemäßigtem Klima, in dem sie bisweilen mit einem Mann zusammen war. Nach all den Jahren hatte ihre Reise sie wieder zu einer Insel geführt. Aber eine Insel kann genausogut Kerker wie Schutz bedeuten. »Du kannst mich nicht so lieben, dass ich mich je sicher fühlen würde«, hatte sie gesagt.
    Und dann stellte ich mir von diesem Standpunkt und aus dieser kalten Perspektive Niemeyer und seine Tochter vor, in dem dunklen Wasser, den noch immer gefährlichen und in unseren Augen keiner Gnade teilhaftigen Mann, der in alle Ewigkeit dies bleiben würde, ein Magwitch mit seiner Tochter, wie sie in dem Wasser um sich schlugen, das tosend über sie hereinbrach und wogte, von der Schiffsschraube aufgewühlt, als das Schiff sie im Stich ließ. Sie können einander nicht sehen, und er kann sie mit seinen Armen wegen der Kälte kaum spüren. Und Luft … sie haben keine Zeit mehr und tauchen auf in die dunkle Luft und atmen ein, soviel sie können, holen keuchend Luft. Er darf sie auf keinen Fall loslassen, diese Tochter, die er nicht sehen, die er mit tauben Fingern kaum ertasten kann. Doch zumindest sind sie nun in die Luft aufgetaucht, an die Wasseroberfläche, die Haut des Mittelmeers, mit einer Spur Mond, einer Spur Licht an einer fernen Küste.
    Niemeyer hält ihr Gesicht mit seinen gefesselten Händen, wie er es in der letzten Sekunde auf der Reling des Schiffsdecks getan hatte, zum Zeichen für ihren Sprung. Er drückt seinen Mund auf ihren Mund, und sie öffnet den Mund und schiebt mit der Zunge den Schlüssel, den sie mit den Zähnen festgehalten hat, ihm entgegen, in seine Obhut. Sie halten sich nur mit Mühe aneinander fest, sie werden hin und her geschleudert, und in diesem finsteren Meer ist der Schlüssel zu klein, als dass man ihn von Hand zu Hand weiterreichen könnte. Die Strömungen um sie herum sind stark und drohen sie voneinander zu trennen, und deshalb wird er den Schlüssel aus seinem Mund nehmen und versuchen, das Schloss aufzuschließen. Also lässt er nun das Mädchen los, verlässt die Wasseroberfläche und versinkt mit dem Schlüssel, allein, ganz und gar darauf konzentriert, das Schloss mit den Fingern zu öffnen, die vor Kälte bereits steif werden. Das ist der Augenblick, in dem er für alle Zeiten gefangen bleiben wird oder nicht.
    Sie haben ihr eingeschärft, nicht auf ihn zu warten. Sie hat genug geopfert. Wenn es ihrem Vater gelingt, sich zu befreien, wird er ihr folgen und sie finden, wo immer sie sein mag. Alle historischen Häfen sind um sie herum aufgereiht. Schließlich ist dies das große Binnenmeer, vor Jahrhunderten entdeckt und seitdem bevölkert, wo Schiffe sich an den Sternen oder bei Tageslicht an den
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