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Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war
Autoren: S Winman
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Mein Leben lässt sich in zwei Hälften unterteilen, nicht wirklich im Sinne eines Vorher und Nachher, sondern eher zwei Buchdeckeln gleich, die Jahre leerer Grübeleien zusammenhalten, Jahre einer späten Jugendlichen in ihren Zwanzigern, der der Mantel des Erwachsenseins einfach nicht passen will. Wanderjahre, an deren Erinnerung ich keine Zeit verschwende.
    Wenn ich Fotos aus diesen Jahren betrachte, dann sehe ich mich zwar, vielleicht vor dem Eiffelturm oder der Freiheitsstatue oder knietief im Meer, winkend und lächelnd; aber all diese Eindrücke, das weiß ich heute, waren getaucht in die fade Farbe der Teilnahmslosigkeit, die selbst einen Regenbogen grau erscheinen ließ.
    Sie taucht in diesen Erinnerungen nie auf, und im Nachhinein wird mir bewusst, dass sie die Farbe war, die fehlte. Sie war wie eine Klammer um diese Jahre, an beiden Enden dieser Zeit des Wartens, und als sie an jenem trüben Januarmorgen in die Klasse kam, war es so, als sei sie selbst das neue Jahr; die Sache, die mir Hoffnung auf einen neuen Beginn gab.
    Aber nur ich allein konnte das sehen. Andere, von Konventionen bestimmt, fanden sie bestenfalls ulkig oder hielten sie schlimmstenfalls für jemanden, über den man ungestört spotten kann. Sie war nicht von dieser Welt; anders. Aber damals, insgeheim, war ich das ebenso. Sie war mein fehlendes Teil; mein Mitspieler.
    Eines Tages wandte sie sich an mich und sagte: » Schau mal«, und zog aus ihrem Unterarm eine neue Fünfzigpencemünze. Ich sah den abgeflachten Rand aus ihrer Haut hervorstehen wie eine Heftklammer. Sie zauberte sie nicht aus der Luft oder aus ihrem Ärmel– all das hatte ich schon gesehen–, nein, sie zog sie tatsächlich aus ihrer Haut heraus, und zurück blieb eine blutige Narbe. Zwei Tage später war die Narbe weg; aber die fünfzig Pence hatte sie noch immer in der Tasche. Und jetzt kommt der Teil, den mir nie jemand glauben wollte. Das Datum auf der Münze war eigenartig. Es lag neunzehn Jahre in der Zukunft: es lautete 1995.
    Ich kann mir weder den Zaubertrick erklären, noch ihre urplötzliche Beherrschung des Klavierspielens eines seltsamen Morgens in einer Kirche. Sie hatte nie Unterricht gehabt, doch es war so, als könne sie ihrem Geist durch reine Willenskraft zu Talent verhelfen und durch dieses Wollen plötzliche, flüchtige Fähigkeiten erlangen. Ich beobachtete all das mit Staunen. Aber diese Momente waren allein für meine Augen bestimmt: Eine Art von Beweis, damit ich ihr glauben würde, wenn es einmal nötig wäre.

Erster Teil
    1968

Ich beschloss, mich der Welt zu stellen, als meine Mutter nach einer unergiebigen Einkaufstour in Ilford gerade aus dem Bus gestiegen war. Sie war eigentlich losgefahren, um eine Hose umzutauschen. Abgelenkt durch meine ständigen Positionswechsel, konnte sie sich aber nicht dazu durchringen, eine Entscheidung zwischen einer Flickenjeans und einer Samtschlaghose zu treffen. Und aus Angst, ich könnte in einem Kaufhaus zur Welt kommen, trat sie erschrocken die Fahrt zurück in die sicheren Grenzen ihres Postleitzahlengebiets an, wo ihre Fruchtblase dann ausgerechnet in dem Moment platzte, als sich auch die Schleusen des Himmels öffneten. Und während des nur etwa siebzig Meter weiten Marschs bis zu unserem Haus vermischte sich ihr Fruchtwasser mit dem Dezemberregen und verschwand in kleinen Spiralen im Rinnstein, bis der Kreislauf des Lebens folgenschwer, und manch einer würde vielleicht sagen auf poetische Weise, vollendet war.
    Entbunden wurde ich von einer Krankenschwester außer Dienst im Schlafzimmer meiner Eltern auf einem Daunenbett, das sie bei einer Tombola gewonnen hatten. Bereits nach zweiundzwanzig Minuten Wehen tauchte mein Kopf auf, und die Schwester rief: » Pressen!« Und mein Vater rief: » Pressen!« Und meine Mutter presste, und ich glitt mühelos in dieses legendäre Jahr. Das Jahr, in dem Paris auf die Straße ging. Das Jahr der Tet-Offensive. Das Jahr, in dem Martin Luther King sein Leben für einen Traum ließ.
    Monatelang lebte ich in der friedlichen Welt erfüllter Bedürfnisse. Umsorgt und liebevoll verhätschelt. Bis zu dem Tag, an dem die Milch meiner Mutter versiegte, um der Flut der Trauer Platz zu machen, die sie plötzlich verschlang, als sie erfuhr, dass ihre Eltern während eines Wanderurlaubs in Österreich ums Leben gekommen waren.
    Es stand in allen Zeitungen. Der außergewöhnliche Unfall, der siebenundzwanzig Touristen das Leben kostete. Das körnige Foto des zerstörten
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