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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
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aus wie die Relikte eines früheren Industriezeitalters – Molen, Watteninseln, Zugänge zu ausgebaggerten Kanälen. Wir kamen an Tankschiffen und an Bojen vorbei. Wir hielten Ausschau nach den heraldischen Ruinen, von denen wir Tausende von Meilen entfernt in Colombo im Geschichtsunterricht gehört hatten. Wir sahen einen Kirchturm. Und dann befanden wir uns mitten unter lauter Namen: Southend, Chapman Sands, Blyth Sands, Lower Hope, Shornmead.
    Unser Schiff tutete viermal kurz, dann eine Pause, dann ein weiteres Tuten, und wir schoben uns vorsichtig dem Kai in Tilbury entgegen. Die Oronsay , die wochenlang unser Universum gewesen war, fand nun zur Ruhe. Weiter flussaufwärts, weiter im Inland als dieser östliche Themseabschnitt, lagen Greenwich, Richmond und Henley. Doch wir hielten hier an, und die Maschinen verstummten.
    Sobald ich die Gangway erreichte, verlor ich Cassius und Ramadhin aus den Augen. Innerhalb weniger Sekunden waren wir voneinander getrennt, hatten einander verloren. Kein letzter Blick und nicht einmal die Erkenntnis, dass es so war. Und nach all den weiten Meeren waren wir nicht imstande, einander in der kahlen Ankunftshalle an der Themse wiederzufinden. Statt dessen drängelten wir uns aufgeregt durch die dichte Menschenmenge, im ungewissen über unser Ziel.
    Wenige Stunden zuvor hatte ich mein erstes Paar lange Hosen entfaltet und angezogen. Ich hatte Socken angezogen, die meine Schuhe verstopften. Und so ging ich mit linkischen Schritten, als wir die breite Gangway zum Kai hinunterstiegen. Ich versuchte herauszufinden, wer meine Mutter sein konnte. Ich wusste nicht mehr recht, wie sie aussah. Ich besaß ein Foto, doch das lag unten in meinem kleinen Koffer.
    Erst nun versuche ich mir jenen Morgen in Tilbury aus der Sicht meiner Mutter vorzustellen, als sie nach dem Sohn Ausschau hielt, den sie vier oder fünf Jahre zuvor in Colombo zurückgelassen hatte, als sie sich vorzustellen versuchte, wie er wohl aussehen mochte, vielleicht im Besitz eines neuen Schwarzweißschnappschusses, den man ihr geschickt hatte, damit sie einen Elfjährigen in der Horde von Passagieren identifizieren konnte. Es muss ein hoffnungsvoller oder schrecklicher Augenblick gewesen sein, ein Augenblick der Möglichkeiten. Wie würde er sich ihr gegenüber betragen? Als höflicher, aber verschlossener Junge oder als liebebedürftiges Kind? Am ehesten kann ich mich vermutlich durch ihre Augen und ihre Bedürfnisse sehen, während sie – wie ich – die Menge nach etwas absuchte, was uns beiden gleichermaßen unbekannt war, als wäre der andere, mit dem man dann das nächste Jahrzehnt oder sogar das restliche Leben in enger Partnerschaft verbringen würde, so beliebig wie eine zufällig gezogene Nummer.
    »Michael?«
    Ich hörte: »Michael«, und in der Stimme klang die Furcht mit, sich zu täuschen. Ich drehte mich um und sah niemanden, den ich kannte. Eine Frau legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Michael!« Sie berührte mein Baumwollhemd und sagte: »Dir ist sicher kalt, Michael.« Ich erinnere mich, dass sie meinen Namen immer wieder sagte. Zuerst sah ich nur auf ihre Hände und ihr Kleid, doch als ich ihr Gesicht sah, wusste ich, dass es ihr Gesicht war.
    Ich stellte meinen Koffer ab und schloss sie in die Arme. Sie hatte recht, mir war kalt. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nur gefürchtet, sie nie zu finden. Doch nun war mir auf einmal kalt, weil sie es gesagt hatte. Ich legte meine Arme um sie, und meine Hände berührten ihren breiten Rücken. Sie beugte sich zurück und sah mich lächelnd an, und dann beugte sie sich vor und drückte mich ganz fest an sich. Ich konnte neben ihr einen Teil der Umwelt sehen, die Gestalten, die vorbeihasteten, ohne mich in den Armen meiner Mutter oder den geliehenen Koffer mit meinen Habseligkeiten neben mir zu beachten.
    Dann sah ich Emily, die in ihrem weißen Kleid vorbeischritt, kurz stehenblieb und zu mir zurückblickte. Es war, als stünde für einen Augenblick alles still, als wäre alles umgekehrt worden. Sie bedachte mich mit der Andeutung eines Lächelns. Dann kam sie zurück und legte ihre Hände, ihre warmen Hände, auf meine Hände am Rücken meiner Mutter. Eine sanfte Berührung, dann ein festerer Druck, fast wie ein Signal. Und dann ging sie.
    Ich hatte den Eindruck, dass sie etwas gesagt hatte.
    »Was hat Emily gesagt?« fragte ich meine Mutter.
    »Es ist Zeit für die Schule, glaube ich.«
    Aus der Ferne winkte Emily, bevor sie in die Welt
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