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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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kommen, ja, sofort. Er war ziemlich klein, hatte schwarzes Haar,
eine blasse Gesichtsfarbe, ebenmäßige, feine Züge und einen kleinen Schnurrbart
im Stil der Belle Époque ; tatsächlich ähnelte er Jed sogar ein wenig –
abgesehen vom Schnurrbart.
    Gleich nachdem er die Wohnung betreten
hatte, untersuchte er lange den Heizkessel, nahm die Bedienungseinheit heraus und
tastete mit seinen feingliedrigen Fingern das komplizierte Netz der
Rohrleitungen ab. Er sprach von Ventilen und Siphons. Er machte den Eindruck,
sich im Leben generell ganz gut auszukennen.
    Nach einer viertelstündigen
Untersuchung stellte er folgende Diagnose: Er könne die Heizung reparieren, ja,
er könne eine Art von Ausbesserung vornehmen, und zwar für fünfzig Euro, nicht mehr. Aber
es handele sich dabei nicht um eine richtige Reparatur, sondern eher um eine
Art Flickwerk, das ein paar Monate, bestenfalls ein paar Jahre halten könne.
Auf lange Sicht jedoch könne er nichts garantieren, und ganz allgemein
gesprochen erscheine es ihm nicht ratsam, auf die Langlebigkeit dieses
Heizkessels eine Wette einzugehen.
    Jed seufzte. Damit habe er schon fast
gerechnet, gab er zu. Er erinnerte sich noch genau an den Tag neun Jahre zuvor,
an dem er beschlossen hatte, diese Wohnung zu kaufen; er sah den untersetzten,
selbstzufriedenen Wohnungsmakler wieder vor sich, der die außergewöhnliche
Helligkeit rühmte, ohne zu verheimlichen, dass die Wohnung leicht
»renovierungsbedürftig« sei. Damals hatte Jed sich gesagt, dass er lieber
Wohnungsmakler oder Gynäkologe geworden wäre.
    Der untersetzte Wohnungsmakler, der in
den ersten Minuten lediglich freundlich gewesen war, verfiel in eine geradezu
lyrische Trance, als er erfuhr, dass Jed Künstler war. Es sei das erste Mal,
rief er, dass er die Möglichkeit habe, ein Künstleratelier an einen Künstler zu verkaufen! Jed befürchtete einen Augenblick, er
könne seine Solidarität mit authentischen Künstlern bekunden, im Unterschied zu
Yuppies und anderen Spießern derselben Sorte, die die Preise in die Höhe
trieben und somit den Künstlern den Kauf eines Künstlerateliers verwehrten,
aber was soll man da schon machen, nicht wahr, ich kann mich schließlich nicht
gegen die Marktlage auflehnen, das ist nicht meine Rolle … Doch zum Glück kam
es nicht dazu, der untersetzte Wohnungsmakler begnügte sich damit, ihm einen
Preisnachlass von 10 Prozent zu gewähren – den er ihm vermutlich schon nach der
ersten Vorverhandlung einzuräumen beschlossen hatte.
    Das »Künstleratelier« war in
Wirklichkeit ein Dachboden mit großen Glasfenstern, die allerdings sehr schön
waren, und ein paar dunklen Nebenräumen, die selbst für jemanden wie Jed kaum
ausreichten, obwohl er nur ein begrenztes Hygienebedürfnis hatte. Aber der
Blick war tatsächlich prachtvoll: Jenseits der Place des Alpes konnte man den
Boulevard Vincent-Auriol sehen, die oberirdische Metro und in der Ferne die in den
Siebzigern erbauten viereckigen Festungen, die in totalem Gegensatz zur
Ästhetik der restlichen Pariser Landschaft standen und die Jed vom
architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog.
    Der Kroate nahm die Reparatur vor
und steckte die fünfzig Euro ein. Er bot Jed nicht an, eine Rechnung
auszustellen, was dieser im Übrigen keineswegs erwartet hatte. Die Tür war
gerade hinter ihm ins Schloss gefallen, als es wieder mehrmals kurz klopfte.
Jed schob die Tür einen Spalt auf.
    »Noch eins, Monsieur«, sagte der Mann.
»Fröhliche Weihnachten. Ich wollte Ihnen noch fröhliche Weihnachten wünschen.«
    »Ach, richtig«, sagte Jed verlegen.
»Das wünsche ich Ihnen auch. Fröhliche Weihnachten.«
    In diesem Augenblick wurde ihm klar,
dass er wohl ein Problem haben würde, ein Taxi zu bekommen. Wie erwartet weigerte
sich AToute kategorisch, ihn nach Le Raincy zu fahren, und Speedtax war allenfalls bereit, ihn bis zum Bahnhof zu bringen
oder zur Not bis zum Rathaus, aber bestimmt nicht in die Nähe der Cité des
Cigales. »Eine Frage der Sicherheit, Monsieur …«, flüsterte der Angestellte
leicht vorwurfsvoll. »Wir verkehren nur in völlig sicheren Bereichen,
Monsieur«, erklärte seinerseits mit aalglatter Arroganz ein Typ von Voitures Fernand Garcin am
Telefon. Jed bekam allmählich Schuldgefühle, weil er den Heiligen Abend in
einem so wenig statthaften Vorstadtviertel wie der Cité des Cigales verbringen
wollte, und wie in jedem Jahr nahm er es seinem Vater übel, dass dieser sich beharrlich
weigerte,
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