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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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das großbürgerliche, von einem großen Park umgebene Haus zu
verlassen, das durch die Bevölkerungsmigration mehr und mehr ins Zentrum eines
Viertels rückte, das immer gefährlicher geworden und seit kurzem tatsächlich
völlig in die Hand von Gangs geraten war.
    Als Erstes hatte sein Vater die
Umfassungsmauer verstärkt, sie mit einem Elektrozaun erhöht und durch ein mit
der Polizeiwache verbundenes Videoüberwachungssystem aufgerüstet, und all das,
damit er einsam durch die nicht zu beheizenden zwölf Zimmer irren konnte, in
denen ihn nie jemand besuchte, abgesehen – an jedem Heiligabend – von Jed.
Schon seit langem waren die kleinen Geschäfte ringsumher verschwunden, und es
war unmöglich, zu Fuß durch die benachbarten Straßen zu laufen – selbst Autos
wurden immer öfter an roten Ampeln überfallen. Die Stadtverwaltung von Le
Raincy hatte ihm eine Haushaltshilfe bewilligt, eine mürrische, ja boshafte
Senegalesin namens Fatty, die von Anfang an eine Aversion gegen ihn entwickelt
hatte, sich weigerte, mehr als einmal im Monat die Bettwäsche zu wechseln, und
bei den Einkäufen höchstwahrscheinlich einen Teil des Geldes für sich selbst
abzweigte.
    Wie auch immer, die Temperatur im
Raum stieg jedenfalls langsam. Jed machte ein Foto von dem Gemälde, an dem er
arbeitete, damit er seinem Vater wenigstens etwas zeigen konnte. Er zog Hose
und Pullover aus, setzte sich im Schneidersitz auf die direkt auf dem Boden
liegende schmale Matratze, die ihm als Bett diente, und hüllte sich in eine
Decke ein. Nach und nach verlangsamte er seinen Atemrhythmus. Er stellte sich
Wogen vor, die sich in fahlem Dämmerlicht langsam und träge hoben und senkten.
Er bemühte sich, seinen Geist in eine Zone der Ruhe zu lenken, und bereitete
sich, so gut er konnte, innerlich darauf vor, wieder einmal einen Heiligabend
mit seinem Vater zu verbringen.
    Diese geistige Vorbereitung trug
Früchte, und der Abend verlief in neutraler, fast geselliger Atmosphäre; schon
seit langem erhoffte er sich nicht mehr.
    Am nächsten Morgen gegen sieben lief
Jed zum Bahnhof in Le Raincy, da er davon ausging, dass auch die Gangs Heiligabend gefeiert hatten,
und erreichte ungehindert die Gare de l’Est.

 
    E IN J AHR DARAUF ZEIGTE DIE H EIZUNG zum ersten Mal wieder ein Zeichen von Schwäche,
nachdem die Reparatur so lange gehalten hatte. Das Gemälde Der Architekt Jean-Pierre Martin gibt die Leitung seines
Unternehmens ab war seit langem beendet
und in Erwartung einer persönlichen Ausstellung, die noch immer nicht
terminiert war, im Lagerraum von Jeds Galeristen untergebracht. Jean-Pierre
Martin selbst hatte – zur Überraschung seines Sohnes und obwohl dieser schon
lange darauf verzichtete, das Thema anzuschneiden – beschlossen, die Villa in
Le Raincy zu verlassen, um in ein Altersheim mit Pflegestation in Boulogne zu
ziehen. Ihr alljährliches Abendessen würde diesmal in einer Brasserie namens Chez Papa an der Avenue
Bosquet stattfinden. Jed hatte das Restaurant aufgrund einer Anzeige im
Citymagazin Pariscope ausgewählt, die eine traditionelle Küche wie zu
Großmutters Zeiten versprach, und dieses
Versprechen war im Großen und Ganzen eingehalten worden. Weihnachtsmänner und
mit Girlanden geschmückte Christbäume waren hier und dort im halbleeren Saal
aufgestellt, der im Wesentlichen von kleinen Gruppen alter oder sogar sehr
alter Leute besetzt war, die eifrig, gewissenhaft, ja fast grimmig auf den
verschiedenen Gerichten traditioneller Küche herumkauten. Es gab Wildschwein,
Spanferkel oder Truthahn und zum Nachtisch natürlich die zu Weihnachten übliche
mit Creme gefüllte Biskuitrolle wie zu Großmutters
Zeiten. Höfliche, unscheinbare Ober
walteten lautlos ihres Amtes wie in einem Zentrum für Brandopfer. Jeds Idee,
seinen Vater in ein solches Restaurant einzuladen, hatte etwas Kindisches, das
war ihm völlig klar. Der hagere, ernste Mann mit dem schmalen, strengen Gesicht
schien sich nie für Gaumenfreuden interessiert zu haben, und die wenigen Male,
an denen Jed mit ihm in der Stadt gegessen hatte, um ihn in der Nähe seines
Arbeitsplatzes zu treffen, hatte sein Vater ein Sushi-Restaurant gewählt – und
zwar immer dasselbe. Es war geradezu pathetisch und ziemlich aussichtslos, eine
gastronomische Geselligkeit schaffen zu wollen, für die es keine Grundlage gab
und vermutlich nie gegeben hatte – als seine Frau noch am Leben gewesen war,
hatte sie es immer gehasst zu kochen. Aber es war eben Weihnachten, und was
hätte Jed
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