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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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tödlichen Routine erstarrt war, jemand, der sich zutiefst in die
Schattenseiten des Lebens verkrochen und den düsteren Weg zum Tod schon
betreten hatte wie sein Vater, wenn also so jemand einen Autor wie Houellebecq
zur Kenntnis genommen hatte, dann musste wohl wirklich etwas an ihm dran sein.
Da wurde Jed plötzlich bewusst, dass er es versäumt hatte, Houellebecq per
E-Mail an seine Anfrage zu erinnern, worum Franz ihn schon mehrmals gebeten
hatte. Und dabei war die Sache sehr eilig. Aufgrund der Daten von Art Basel und Frieze Art Fair musste die
Ausstellung im April oder spätestens im Mai stattfinden, und man konnte
Houellebecq schlecht bitten, ein Vorwort für den Katalog in vierzehn Tagen
herunterzuschreiben, er war immerhin ein berühmter, Franz zufolge sogar
weltberühmter Autor.
    Sein Vater war wieder in seine
Lethargie verfallen, er kaute mit ebenso wenig Begeisterung auf seinem
Saint-Nectaire herum wie auf dem Spanferkel. Vermutlich geht es auf Mitgefühl
zurück, wenn man alten Leuten eine stark entwickelte Esslust unterschiebt, weil
man sich einreden möchte, dass ihnen wenigstens das noch bleibt, dabei sterben
bei den meisten Menschen vorgerückten Alters auch die Gaumenfreuden unweigerlich
ab wie alles andere. Stattdessen bleiben nur noch Verdauungsstörungen und
Prostatakrebs.
    Ein paar Meter links von ihnen
schienen drei Frauen in ihren Achtzigern andächtig vor ihrem Obstsalat zu
verharren – vielleicht in Gedenken an ihre verstorbenen Ehemänner. Eine von
ihnen streckte die Hand nach ihrem Champagnerglas aus, doch dann ließ sie sie
auf den Tisch sinken; ihr Brustkorb hob sich von der Anstrengung. Nach ein paar
Sekunden versuchte sie es mit stark zitternder Hand noch einmal, wobei sich ihr
Gesicht vor Konzentration verzerrte. Jed nahm sich zusammen, um nicht
einzugreifen, doch er wäre sowieso nicht dazu in der Lage gewesen. Selbst der
Ober, der ein paar Meter neben ihnen stand und den Vorgang mit besorgtem Blick
überwachte, hätte nicht mehr eingreifen können; diese Frau stand jetzt in
direktem Kontakt mit Gott. Sie war vermutlich eher um die neunzig als Mitte achtzig.
    Damit alles einen guten Abschluss
fand, wurde nun der Nachtisch serviert. Resigniert machte sich Jeds Vater über
die traditionelle Biskuitrolle her. Jetzt würde die Sache nicht mehr lange
dauern. Die Zeit verging auf seltsame Weise zwischen ihnen: Obwohl sie kein
Wort wechselten und das an ihrem Tisch nun schon lange andauernde Schweigen
eigentlich schwer auf ihnen hätte lasten müssen, schienen die Sekunden und
sogar die Minuten mit rasender Geschwindigkeit zu verrinnen. Ohne dass ihm
irgendein Gedanke durch den Kopf gegangen wäre, begleitete Jed seinen Vater
eine halbe Stunde später zum Taxistand.
    Es war erst zehn Uhr abends, doch Jed
wusste, dass die anderen Bewohner des Altersheims seinen Vater beneiden würden,
weil er zu Weihnachten mehrere Stunden lang mit jemandem zusammen war. »Ihr
Sohn ist ein guter Junge«, hatte man schon mehrfach zu ihm gesagt. Nach dem
Einzug in ein Altersheim mit Pflegestation befindet sich der ehemalige Senior –
der nun unwiderruflich zum Greis geworden ist – ein bisschen in der Rolle eines
Internatsschülers. Manchmal bekommt er Besuch: Das ist dann ein Moment des
Glücks, er kann die Welt erkunden, Schokokekse von Bahlsen essen und den Clown
Ronald McDonald treffen. Aber die meiste Zeit bekommt er keinen Besuch: Dann
irrt er traurig zwischen den Handballpfosten über das geteerte Gelände des
leeren Internats. Er wartet auf die Befreiung, darauf, flügge zu werden.
    Als Jed wieder in seinem Atelier war,
stellte er fest, dass die Heizung noch funktionierte, die Raumtemperatur war
normal, ja sogar recht warm. Er zog sich halb aus, ehe er sich auf seiner
Matratze ausstreckte und mit völlig leerem Kopf sofort einschlief.

 
    E R SCHRECKTE MITTEN IN der Nacht hoch, der Wecker zeigte 4.43 Uhr an. Im Zimmer
war es heiß und stickig. Das Geräusch des Heizkessels hatte ihn geweckt. Aber
es war nicht das übliche Knacken. Diesmal gab das Gerät ein tiefes,
infraschallartiges Brummen von sich. Jed riss das Küchenfenster auf, dessen
Scheiben mit Eisblumen überzogen waren. Kalte Luft drang herein. Sechs
Stockwerke tiefer störte ein Grunzen wie von Schweinen die weihnachtliche Ruhe.
Er schloss das Fenster sofort wieder. Wahrscheinlich waren Penner in den Innenhof
eingedrungen; am folgenden Tag würden sie sich an aus Mülltonnen
zusammengesuchten Resten des Weihnachtsmahls gütlich tun.
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