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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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aufgestellten Rangliste der vermögendsten Künstler
nahm Koons weltweit den zweiten Platz ein; seit einigen Jahren hatte ihm der
etwa zehn Jahre jüngere Hirst den ersten Rang streitig gemacht. Was Jed anging,
so hatte er gut zehn Jahre zuvor den 583. Platz eingenommen – aber immerhin Platz
17 unter den Franzosen. Anschließend war er, wie die Kommentatoren der Tour de
France es ausdrücken, »vom Feld geschluckt« worden, ehe er ganz aus der Liste
verschwunden war. Er leerte die Dose Cannelloni und entdeckte eine
Cognacflasche mit einem kleinen Rest. Dann drehte er die Spots seiner
Halogenleiste voll auf und richtete sie auf die Mitte des Gemäldes. Bei näherer
Betrachtung stellte er fest, dass selbst die Nacht nicht richtig gelungen war,
ihr fehlte die geheimnisvolle Pracht, die man mit Nächten der arabischen
Halbinsel verband; er hätte Cölinblau verwenden sollen und nicht Ultramarin. Es
war wirklich ein beschissenes Bild, das er da malte. Er nahm einen Spachtel,
stach Damien Hirst ein Auge aus und vergrößerte dann mühevoll das Loch – es war
eine sehr widerstandsfähige Leinwand aus eng gewebten Leinenfasern. Dann
ergriff er die klebrige Leinwand mit einer Hand und zerriss sie mit einem Ruck.
Die Staffelei geriet ins Schwanken und stürzte zu Boden. Ein wenig ruhiger
geworden, hielt Jed inne, betrachtete seine mit Farbe besudelten Hände und
trank den Cognac aus, ehe er mit beiden Füßen auf das Gemälde sprang, es zertrampelte
und über den Boden rieb, der allmählich glitschig wurde. Schließlich verlor er
das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin, wobei er mit dem Hinterkopf
gegen den Rahmen der Staffelei schlug. Er musste aufstoßen und übergab sich,
und plötzlich fühlte er sich besser, die frische Nachtluft strich über sein
Gesicht, er schloss glücklich die Augen; er hatte ganz offensichtlich das Ende
eines Zyklus erreicht.

E RSTER T EIL

I
    J ED ERINNERTE SICH nicht mehr daran, wann er zu zeichnen begonnen hatte.
Vermutlich zeichnen mehr oder weniger alle Kinder, er kannte keine Kinder und
war sich daher nicht sicher. Sicher wusste er im Moment nur, dass er damals
begonnen hatte, Blumen zu zeichnen – und zwar mit Buntstiften in kleine Hefte.
    Hauptsächlich an Mittwochnachmittagen
und manchmal auch sonntags hatte er Momente regelrechter Ekstase erlebt, wenn
er allein im sonnigen Garten war, während die Babysitterin mit ihrem aktuellen
Freund telefonierte. Vanessa war damals achtzehn und studierte im ersten Jahr
Wirtschaftswissenschaft an der Universität Saint-Denis/ Villetaneuse,
und über lange Zeit war sie die einzige Zeugin seiner ersten künstlerischen
Versuche gewesen. Sie fand seine Zeichnungen hübsch, das sagte sie ihm, und es
war durchaus ehrlich gemeint; dennoch blickte sie ihn manchmal verwundert an.
Kleine Jungen zeichnen meistens blutrünstige Monster, Naziabzeichen und
Jagdflugzeuge (oder, wenn sie schon weit für ihr Alter sind, Mösen und
Schwänze), aber nur selten Blumen.
    Jed wusste es damals nicht, und
Vanessa ebenso wenig, aber Blumen sind reine Sexualorgane, farbenprächtige
Scheiden, die die Oberfläche der Welt schmücken und der Lüsternheit der
Insekten preisgegeben sind. Die Insekten, die Menschen und auch andere Tiere
scheinen ein Ziel zu verfolgen, sie bewegen sich schnell und zielsicher voran,
während die Blumen im Licht bleiben, strahlend schön und unverrückbar. Die
Schönheit der Blumen stimmt traurig, weil Blumen empfindlich und dem Tod geweiht
sind wie natürlich alles andere auf der Erde, aber in ganz besonderer Weise,
und wie bei den Tieren sind ihre sterblichen Überreste nur eine groteske
Parodie ihres lebendigen Seins, und wie die der Tiere stinken auch sie – all
das begreift man, sobald man einmal den Wechsel der Jahreszeiten miterlebt hat,
und Jed hatte es schon im Alter von fünf Jahren oder vielleicht noch früher
begriffen, denn der Park, der das Haus in Le Raincy umgab, war voller Blumen
und Bäume, und die sich im Wind bewegenden Zweige der Bäume gehörten vielleicht,
abgesehen von Wolken und Himmel, zu den ersten Dingen, die er wahrgenommen
hatte, als er von einer erwachsenen Frau (seiner Mutter?) in einem Kinderwagen
durch den Garten geschoben worden war. Der Lebenswille der Tiere kommt durch
schnelle Umwandlungen zum Ausdruck – durch das Befeuchten des Lochs, das
Aufrichten des Stängels und anschließend das Ausscheiden der Samenflüssigkeit –, aber das sollte er erst später auf einem Balkon in
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