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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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Port-Grimaud
herausfinden, unter Mithilfe von Marthe Taillefer. Der Lebenswille der Blumen kommt
durch die Bildung von Flecken in leuchtenden Farben zum Ausdruck, die das
banale Grün der natürlichen Landschaft wie auch die im Allgemeinen banale
Einförmigkeit der Städte sprengen, zumindest in blumengeschmückten Gemeinden.
    Abends kehrte Jeds Vater heim, er hieß
»Jean-Pierre«, so nannten ihn seine Freunde. Jed nannte ihn »Papa«. Er war ein
guter Vater, so wurde er zumindest von seinen Freunden und Untergebenen
angesehen; ein Witwer braucht sehr viel Mut, um ein Kind allein aufzuziehen. In
den ersten Jahren war Jean-Pierre ein wirklich guter Vater gewesen, jetzt war
er es nicht mehr so sehr, er ließ immer öfter eine Babysitterin kommen, aß abends
häufig außer Haus (meistens mit Kunden, manchmal mit seinen Untergebenen, immer
seltener mit Freunden, denn die Zeit der Freundschaften ging für ihn allmählich
zu Ende, er glaubte nicht mehr so recht daran, dass man Freunde haben konnte und
dass eine freundschaftliche Beziehung im Leben eines Mannes wirklich zählen
oder seinen Lebensweg beeinflussen kann), er kehrte abends spät heim und
versuchte nicht einmal, mit der Babysitterin zu schlafen, wie es die meisten Männer
taten; er hörte sich nur ihren Bericht über den Tagesverlauf an, lächelte
seinem Sohn zu und zahlte den geforderten Lohn. Er war das Oberhaupt einer
zerfallenen Familie und hatte nicht vor, eine neue zu gründen. Er verdiente
viel Geld: Er war Chef eines Bauunternehmens und hatte sich auf die Realisierung
von schlüsselfertig übergebenen Ferienwohnungen in Seebädern spezialisiert; er
hatte Kunden in Portugal, auf den Malediven und in Santo Domingo.
    Jed hatte aus dieser Zeit die
Hefte aufbewahrt, die seine sämtlichen damaligen Zeichnungen enthielten, und
all das verkam allmählich (das Papier war nicht von hoher Qualität, die
Buntstifte ebenso wenig), wenn auch nicht sehr schnell, es konnte vielleicht
noch zwei oder drei Jahrhunderte überstehen, Dinge und Lebewesen haben nun
einmal eine begrenzte Lebensdauer.
    Ein Bild, das vermutlich aus den
ersten Jahren seines Jugendalters stammte, eine Gouache, trug den Titel
»Heuernte in Deutschland« (das war ziemlich rätselhaft, denn Jed kannte
Deutschland nicht und hatte nie eine »Heuernte« miterlebt und erst recht nicht
an einer teilgenommen). Im Hintergrund waren verschneite Berge zu sehen, obwohl
das Licht ganz offensichtlich an den Hochsommer denken ließ, die Bauern, die
das Heu mit Heugabeln auf die Wagen luden, und die an die Fuhrwerke angeschirrten
Esel waren in gleichmäßigen lebhaften Farbtönen ohne Schattierungen dargestellt
– das Bild war ebenso schön wie ein Cézanne oder was auch immer. Die Frage der
Schönheit ist in der Malerei zweitrangig, die großen Maler der Vergangenheit
wurden als solche betrachtet, wenn sie eine sowohl kohärente als auch
innovative Weltsicht entwickelt hatten; das bedeutet, dass sie immer auf die
gleiche Art malten, sich stets derselben Methoden, derselben Vorgehensweisen
bedienten, um Objekte der Welt in Objekte der Malkunst zu verwandeln, und dass
die Art, die ihnen zu eigen war, noch nie zuvor angewandt worden war. Noch
höher wurden sie als Maler geschätzt, wenn ihre Weltsicht erschöpfend zu sein
schien und sich dem Anschein nach auf alle Objekte und alle existierenden oder
vorstellbaren Situationen anwenden ließ. Das war die klassische Vorstellung von
Malerei, mit der man Jed während seiner Ausbildung im Gymnasium vertraut
gemacht hatte und die auf dem Konzept der gegenständlichen
Darstellung beruhte – der gegenständlichen
Darstellung, auf die Jed seltsamerweise einige Jahre später im Lauf seiner
Karriere zurückgreifen sollte und die, was noch seltsamer war, ihm letztlich
Reichtum und Ruhm einbringen sollte.
    Jed widmete sein Leben (zumindest
sein Berufsleben, das sehr bald mit seinem übrigen Leben verschmelzen sollte)
der Kunst , der
Produktion von Darstellungen der Welt, in denen die Menschen allerdings absolut
kein bisschen zu leben brauchten. Und daher konnte er Darstellungen
produzieren, die eine gewisse Kritik enthielten – zumindest bis zu einem
bestimmten Grad, denn die Kunst wie auch die gesamte Gesellschaft tendierten in
Jeds Jugendjahren dazu, die Welt zu akzeptieren, manchmal sogar mit
Begeisterung, meistens aber mit einer gewissen Ironie. Sein Vater dagegen
verfügte nicht über die Freiheit dieser Wahl; er musste Wohneinheiten
produzieren, bei deren Konzeption er
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