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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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sich keinerlei Ironie leisten konnte, weil
Menschen darin wohnen und die Möglichkeit haben sollten, sich dort wohlzufühlen,
zumindest für die Dauer ihres Urlaubs. Und falls in diesen Wohnmaschinen irgendwelche
ernsthaften Funktionsstörungen auftreten sollten – wenn zum Beispiel ein
Fahrstuhl abstürzte oder die Toiletten verstopft waren –, war er dafür
verantwortlich. Keinerlei Verantwortung trug er dagegen für den Fall, dass der
Ferienwohnungskomplex von einer rohen, gewalttätigen Bevölkerungsgruppe
überfallen wurde, welche die Polizei oder die zuständigen Behörden nicht unter
Kontrolle zu halten imstande waren; im Fall eines Erdbebens konnte er nur in
begrenztem Maß zur Verantwortung gezogen werden.
    Der Vater seines Vaters war Fotograf
gewesen – seine Abstammung verlor sich in einem ziemlich unappetitlichen, seit
vordenklichen Zeiten stagnierenden Sozialsumpf, der im Wesentlichen aus
Landarbeitern und armen Bauern bestanden hatte. Was hatte bloß diesen aus
armseligen Verhältnissen stammenden Mann dazu veranlassen können, sich mit den
gerade im Entstehen begriffenen Techniken der Fotografie auseinanderzusetzen?
Jed hatte nicht die geringste Ahnung, sein Vater ebenso wenig. Und doch war er
der Erste in einer langen Ahnenfolge gewesen, der das Joch der simplen
gesellschaftlichen Reproduktion des Immergleichen abgeschüttelt hatte. Er hatte
sich sein Brot damit verdient, zumeist Hochzeiten, manchmal eine Erstkommunion
oder das Abschlussfest zum Ende des Schuljahres in einer Dorfschule zu
fotografieren. Da er in der Creuse lebte, einem seit jeher stiefmütterlich
behandelten, weitab vom Schuss liegenden Departement, hatte er so gut wie nie
die Gelegenheit gehabt, die Einweihung von Gebäuden oder den Besuch von
Politikern nationaler Bedeutung zu fotografieren. Er übte einen bescheidenen,
schlecht bezahlten Handwerksberuf aus, und dass sein Sohn den Architektenberuf
ergriff, war als solches schon ein echter sozialer Aufstieg – ganz zu schweigen
von seinem späteren Erfolg als Unternehmer.
    Als Jed sein Kunststudium an der
Pariser École des Beaux-Arts begann, hatte er das Zeichnen bereits zugunsten
der Fotografie aufgegeben. Zwei Jahre zuvor hatte er im Haus seines Großvaters
eine Fachkamera auf dem Dachboden gefunden – eine Linhof Master Technika
Classic –, die dieser zum Zeitpunkt, da er in den Ruhestand gegangen war, schon
nicht mehr benutzt hatte, die aber noch perfekt funktionierte. Jed war damals
von diesem vorsintflutlichen Objekt fasziniert gewesen, das schwer und seltsam
war, aber von außergewöhnlicher Qualität, was die Fertigung betraf. Nach ein
paar tastenden Versuchen hatte er schließlich gelernt, wie man mit Hilfe von
exzentrischer Verstellung und dem gegeneinander Verkippen von Film- oder Objektivebene
nach der scheimpflugschen Regel gut fokussierte Fotos erhielt, ehe er sich
einem Bereich zuwandte, der ihn während seines ganzen Studiums nahezu
ausschließlich beschäftigen sollte: die systematische fotografische Wiedergabe
der gewerblichen und industriellen Erzeugnisse der Welt. Er machte die
Aufnahmen in seinem Zimmer, meistens bei natürlicher Beleuchtung. Aktenhefter
in Hängevorrichtungen, Faustwaffen, Terminkalender, Druckerpatronen, Gabeln:
Nichts entzog sich seinem enzyklopädischen Ehrgeiz, der darin bestand, einen
erschöpfenden Katalog der Gegenstände menschlicher Fertigung im industriellen
Zeitalter zu erstellen.
    Dieses grandiose und zugleich
manische, um nicht zu sagen etwas verrückte Projekt brachte ihm zwar die
Anerkennung seiner Hochschullehrer ein, erlaubte ihm aber nicht, sich einer der
Gruppen anzuschließen, die sich in seinem Umfeld auf der Grundlage gemeinsamer
ästhetischer Ambitionen oder mit der eher prosaischen Absicht bildeten, sich
als geschlossene Gruppe auf dem Kunstmarkt zu etablieren. Dennoch schloss er
einige, wenngleich nicht sehr intensive Freundschaften, ohne zu ahnen, von
welch kurzer Dauer diese sein würden. Auch Liebesbeziehungen ging er ein, von
denen ebenfalls so gut wie keine länger anhalten sollte. An dem Tag nachdem er
sein Diplom erhalten hatte wurde ihm bewusst, dass er fortan ziemlich allein
sein würde. Das Resultat seiner Arbeit der vergangenen sechs Jahre bestand aus
etwas mehr als elftausend Fotos. Im TIFF -Format gespeichert, ließen sie sich als Kopien in Form
von JPEG -Dateien
mit herabgesetzter Auflösung mühelos auf einer etwas über 200 Gramm wiegenden
640-Gigabyte-Festplatte der Marke Western Digital
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