Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Astighwelt, das im Museum von Dijon hängt. Sie lächelte
nur selten auf diesen Bildern, und selbst ihr Lächeln schien noch eine gewisse
Beklemmung zu überdecken. Sicher wurde man von der Tatsache beeinflusst, dass
sie sich das Leben genommen hatte, aber selbst wenn man versuchte, sich von
diesem Gedanken zu befreien, ging etwas Unwirkliches oder zumindest Zeitloses
von ihr aus. Man konnte sie sich leicht auf einem Gemälde des Mittelalters oder
der frühen Renaissance vorstellen; dagegen schien es unwahrscheinlich, dass sie
in den sechziger Jahren ein Teenager gewesen sein könne, ein Transistorradio besessen habe oder zu Rockkonzerten gegangen sei.
In den ersten Jahren nach ihrem
Tod hatte Jeds Vater sich bemüht, die Schularbeiten seines Sohnes zu
beaufsichtigen, außerdem unternahmen sie an den Wochenenden immer etwas
gemeinsam, gingen zu McDonald’s oder ins Museum. Doch dann weitete sich das
Betätigungsfeld seiner Firma fast unvermeidlich immer mehr aus; sein erster
Vertrag im Bereich der Realisierung schlüsselfertig übergebener Ferienwohnungen
in Seebädern war ein glänzender Erfolg gewesen. Nicht nur die Termine und die
anfänglich vereinbarten Kostenvoranschläge wurden eingehalten – was an sich
schon eher selten war –, sondern die Verwirklichung der Bauten wurde für ihre
Ausgewogenheit und die umweltfreundliche Konzeption einhellig gelobt – in der
Regionalpresse und in den französischen Fachzeitschriften für Architektur waren
überschwängliche Artikel veröffentlicht worden, und die Beilage »Styles« der
Tageszeitung Libération hatte dem Projekt eine ganze Seite gewidmet. In Port-Ambarès, war da zu
lesen, habe er es verstanden, sich der »Quintessenz der mediterranen Bauweise«
anzunähern. Dabei hatte er seiner Ansicht nach lediglich in einheitlich mattem
Weiß gehaltene Betonwürfel unterschiedlicher Größe aneinandergereiht, die nach
dem Prinzip der traditionellen marokkanischen Häuser konzipiert waren, und
diese durch Gruppen von Oleandersträuchern voneinander getrennt. Jedenfalls
bekam er nach diesem ersten Erfolg eine Flut von Aufträgen und musste immer
öfter Auslandsreisen machen. Als Jed in die siebte Klasse kam, beschloss sein
Vater, ihn ins Internat zu schicken.
Er entschied sich für das
Jesuitenkolleg in Rumilly im Departement Oise. Es war zwar ein Privatgymnasium,
aber keines von denen, die einer Elite vorbehalten waren; im Übrigen hielt sich
die Höhe des Schulgelds durchaus in Grenzen, der Unterricht war nicht
zweisprachig und das Sportangebot in keiner Weise extravagant. Die Schüler des
Kollegs von Rumilly waren keine Sprösse steinreicher Eltern, sondern stammten
eher aus konservativen Kreisen der ehemaligen Bourgeoisie (viele der Väter
waren Berufsoffiziere oder Diplomaten), waren jedoch keine fundamentalistischen
Katholiken – meistens waren die Kinder nach einer langen, komplizierten
Scheidung ins Internat geschickt worden.
Die Gebäude waren nüchtern und eher
hässlich, boten aber akzeptable Wohnbedingungen – die Schüler der unteren
Stufen waren in Doppelzimmern untergebracht, hatten aber Anrecht auf ein
Einzelzimmer, sobald sie in die zehnte Klasse kamen. Die Stärke des Kollegs,
das Hauptargument, welches das Internat geltend machte, war die pädagogische Betreuung,
die jedem einzelnen Schüler zugute kam – und tatsächlich hatte die Erfolgsquote
beim Abitur seit der Gründung der Schule immer über 95 Prozent gelegen.
Innerhalb dieser Mauern sollte Jed
seine Jugendjahre verbringen, die im Wesentlichen arbeitsam und trübselig
verliefen. Bisweilen unternahm er auch lange Spaziergänge unter dem äußerst
finsteren Nadeldach der von Tannen gesäumten Parkwege. Er beklagte sich nicht
über sein Schicksal und stellte sich kein anderes vor. Die Raufereien unter den
Schülern waren manchmal sehr gewaltsam, die Erniedrigungen, die sie sich
gegenseitig zufügten, brutal und quälerisch, und Jed, der empfindsam und
schmächtig war, wäre nie imstande gewesen, sich zu verteidigen; aber es hatte
sich herumgesprochen, dass er einen Elternteil verloren hatte, und zwar die
Mutter. Dieser Schmerz, den seine Mitschüler nicht kannten, schüchterte sie
ein, und daher war Jed gleichsam von einem Schutzwall furchtsamer Achtung
umgeben. Er hatte keinen engen Freund und suchte nicht die Freundschaft
anderer. Dagegen verbrachte er ganze Nachmittage in der Bibliothek, und als er
mit achtzehn das Abitur machte, besaß er ein für die jungen Leuten seiner
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