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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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sonst für ihn tun können? Seinem Vater war es völlig gleichgültig,
wie er gekleidet war, er las immer weniger und schien sich kaum noch für
irgendetwas zu interessieren. Er war, den Worten der Leiterin des Altersheims
zufolge, »relativ gut integriert«, was vermutlich hieß, dass er mit so gut wie
niemandem sprach. Im Moment kaute er mühselig auf seinem Spanferkel herum, mit
einem Gesichtsausdruck, als handele es sich um ein Stück Gummi. Nichts deutete
darauf hin, dass er das schon lange anhaltende Schweigen brechen wollte, und
Jed suchte nervös und fieberhaft – er hätte keinen Gewürztraminer zu den
Austern trinken sollen, das war ihm schon in dem Augenblick bewusst geworden,
als er die Bestellung aufgegeben hatte, denn wenn er Weißwein trank, konnte er
keinen klaren Gedanken mehr fassen – nach etwas, das einem Gesprächsthema
ähnelte. Wenn er verheiratet gewesen wäre, wenn es wenigstens eine Freundin
oder auch nur irgendeine Frau in seinem Leben gegeben hätte, wäre die Sache ganz
anders verlaufen – Frauen gehen bei solchen Familiengeschichten eben viel
geschickter vor als Männer, das ist ihnen gewissermaßen in die Wiege gelegt,
und selbst wenn keine Kinder anwesend sind, geben diese immer einen
potentiellen Gesprächsstoff ab, und alte Leute interessieren sich
bekanntermaßen für ihre Enkelkinder, sie verbinden das mit den Zyklen der Natur
oder so, auf jeden Fall entsteht dabei so etwas wie Rührung in ihrem alten
Kopf, der Sohn ist zwar der Tod des Vaters, das steht fest, aber für einen
Großvater ist der Enkel eine Art Wiedergeburt oder Revanche, und zumindest für
die Dauer eines Weihnachtsessens kann so etwas durchaus genügen. Jed sagte sich
manchmal, er solle für diese Weihnachtsabende ein Escort Girl engagieren und
eine kleine Geschichte erfinden; dazu hätte er das Mädchen nur zwei Stunden
vorher kurz über die Situation informieren müssen, sein Vater war nicht sehr
neugierig, was Einzelheiten aus dem Leben anderer Leute betraf, eben nicht
neugieriger, als Männer es im Allgemeinen sind.
    In den romanischen Ländern kann
Politik als Gesprächsthema für Männer mittleren oder vorgerückten Alters
ausreichen, in den unteren Schichten kann Sport eine weitere Möglichkeit
bieten. Bei Leuten, die stark von angelsächsischen Werten beeinflusst sind,
wird die Rolle der Politik eher durch Themen aus Wirtschaft und Finanz
eingenommen, auch Literatur kann als Zusatzthema dienen. Doch was Jed und
seinen Vater betraf, so interessierten sie sich weder für Wirtschaft noch für
Politik. Jean-Pierre Martin war im Großen und Ganzen mit der Art einverstanden,
wie das Land regiert wurde, und sein Sohn hatte dazu keine Meinung. Alles in
allem erlaubte ihnen das aber immerhin, bis zur Käseplatte durchzuhalten, indem
sie sich ein Ministerium nach dem anderen vornahmen.
    Als die Käseplatte auf einem Rollwagen
herbeigeschoben wurde, kam etwas Leben in Jeds Vater, und er fragte seinen Sohn
nach dessen künstlerischen Plänen. Leider würde Jed diesmal die Stimmung etwas
trüben müssen, denn sein letztes Gemälde Damien Hirst
und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf gefiel ihm überhaupt nicht mehr, er kam nicht voran,
seit ein oder zwei Jahren war er von einer Kraft beseelt gewesen, die
inzwischen nachließ und allmählich versiegte, aber warum sollte er all das
seinem Vater sagen, der konnte nichts dafür, niemand konnte im Übrigen etwas
dafür, die Leute konnten angesichts eines solchen Eingeständnisses höchstens
ein leichtes Bedauern ausdrücken, denn die zwischenmenschlichen Beziehungen
sind letzten Endes ziemlich begrenzt.
    »Ich bereite fürs Frühjahr eine
persönliche Ausstellung vor«, verkündete er schließlich. »Aber die Sache geht
nicht so recht voran. Franz, mein Galerist, möchte gern einen Schriftsteller haben,
der das Vorwort zu dem Katalog schreibt. Er hat an Houellebecq gedacht.«
    »Michel Houellebecq?«
    »Du kennst ihn?«, fragte Jed
überrascht. Er hätte nie vermutet, dass sein Vater sich noch in irgendeiner
Form für die gegenwärtige Kulturproduktion interessieren könnte.
    »Im Altersheim haben wir eine kleine
Bibliothek, ich habe zwei Romane von ihm gelesen. Das ist ein guter Autor, wie
mir scheint. Liest sich sehr angenehm, und er zeichnet ein ziemlich zutreffendes
Bild unserer Gesellschaft. Hat er dir schon geantwortet?«
    »Nein, noch nicht …« Jed dachte jetzt
blitzschnell nach. Wenn selbst jemand, der zutiefst in einer verzweifelten, ja
geradezu
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