Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
Zeichen
    Sie tanzte direkt unter dem Stroboskop, im Lichtgewitter. Und wie sie tanzte! Selbstvergessen, mit geschlossenen Augen. Das war kein gutes Zeichen. Es konnte bedeuten, dass sie zwinkerte und sich plötzlich an einem anderen Tag wiederfand, an einem anderen Ort, mit anderer Musik. Mit einem Muskelkater im Kiefer und braunen Krusten unter den Fingernägeln.
    Wie alt war sie? Sechzehn, vielleicht siebzehn. Etwas jünger als ich jedenfalls. Mädchen wie sie sollten um zwei Uhr morgens zu Hause sein und unruhig von der Mathearbeit am nächsten Tag träumen. Ich wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, ins Mata Hari zu kommen. Vielleicht hatte der Gorilla an der Tür sie wegen der Prügelei einfach übersehen. Klein genug war sie. Ich bin kein Riese, aber sie ging mir höchstens bis zur Schulter. Sie war eines dieser zierlichen Mädchen mit Schneewittchenfarben. Eine von denen, die in jeden vergifteten Apfel beißen. Allerdings sah sie nicht so aus, als würde Gift sie so schnell umbringen.
    Ich bemühte mich, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich sie unentwegt ansehen musste. Aber wenn man schon vor sich selbst Ausreden dafür braucht, dass die Gedanken zu flirren beginnen, die Farben plötzlich stärker werden und die Tanzfläche leer erscheint bis auf diese eine Frau, dann ist das ebenfalls ein schlechtes Zeichen. Jedenfalls bei mir.
    Hör auf sie anzustarren, befahl ich mir. Verschwinde! Besser für sie. Und für dich.
    Aber mein Körper gehorchte nicht. Ich nahm jede kleine Einzelheit wahr: ihr Haar, das ihr glatt und schwarz über den Rücken fiel, die langen Wimpern und die feine Linie der Wangenknochen. Sie hatte etwas Sanftes in ihren Zügen, das mich berührte – ich spürte ein warmes Pochen unter dem Rippenbogen, dort, wo manchmal auch der Schmerz saß. Sie trug weiße Jeans und ein weißes T-Shirt, auf dem ein tellergroßer roter Punkt prangte – mitten auf der Brust. Japan-Fan? Meine Sehnsucht danach, sie einfach anzusprechen, wurde gerade noch rechtzeitig von einer Welle aus Besorgnis verdrängt. Lass sie. Es geht dich nichts an. Und du gehst sie nichts an. An dieser Stelle war ich fast erleichtert, mir einreden zu können, dass es Mitleid war. Nur Mitleid, Gil! Keine Gefahr für dich.
    Mann, sie hatte wirklich keine Ahnung.
    Die Art, wie sie im Schwung der Musik ihr Haar nach hinten warf, die Unruhe, die die Luft zwischen uns nicht nur im Rhythmus der Musik pulsieren ließ – all das machte es mir unmöglich, mich abzuwenden. Selbst im abgehackten Stroboskop-Licht, wo alle Tänzer wie eine Serie von Schnappschüssen wirkten, war ihre Bewegung gleitend. Sie bewegte sich schneller als die anderen, nur wusste sie es nicht. Und das war eindeutig ein schlechtes Zeichen Nummer drei.
    Jetzt kam fließendes Licht, violett, es verwandelte ihre Lippen in dunkles Purpur. Und als ein Typ sie anrempelte und sie endlich die Augen öffnete und ihn mit einer Mischung aus träge aufquellender Wut und Verwirrung anblickte, hielt ich den Atem an. Die Tanzfläche kochte und mir war plötzlich kalt.
    Alles verändert sich. Damit fängt es an. Die Muskelspannung, die verhaltene Reizbarkeit. Und die Herzfrequenz.
    »French!«, brüllte Irves gegen den Beat an. Widerwillig wandte ich mich von der Tanzfläche ab und sah zu ihm hinüber. Irves lehnte nie an einem Tresen. Er stand aufrecht, alles an ihm war vibrierende Energie, nur sein Gesicht blieb unbewegt. Im Lounge-Licht glühte sein weißes Haar violett, und auch die Augen, bei Tag von einem rötlichen Hellgrau, hatten Farbe: der Geistermann in seinem Reich der Nacht. An seiner Seite sah ich aus wie sein Negativ: Dunkel neben Hell, Schwarz neben Weiß. Zwei Schachfiguren, die auf verschiedenen Seiten spielten. Einen Moment lang dachte ich, dass Schneewittchen und er ein gutes Paar abgeben würden. Die Schöne und das Biest, Manga-Style. Dieser Gedanke gefiel mir ganz und gar nicht.
    Er ruckte mit dem Kinn zur Tür, die Pantomime einer Frage, und ich schüttelte den Kopf, drehte der Tanzfläche den Rücken zu und stützte mich auf den Tresen. Licht spiegelte sich auf der mit Colaringen übersäten Glasplatte. Ich konnte jetzt nicht gehen. Noch nicht.
    Ich wünschte mir, Irves würde einfach verschwinden, ohne Fragen zu stellen. Aber er hatte seine Antennen ausgefahren. Wenn er mitschwang, fing er Stimmungen auf, er folgte Blicken, als würden sie Laserspuren im Raum hinterlassen. Die Leute um ihn herum wichen ihm unwillkürlich aus. Wenn er tanzte, gab er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher