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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition)
Autoren: Stefan Slupetzky
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    Teil 1
    Paris
    1
    Wenn der Mikulitsch das Dienstabteil verlässt, um seines Amtes zu walten, hat der Zug in der Regel schon Sankt Andrä-Wördern passiert. Der Mikulitsch ist ein kontemplativer, besonnener Mann; er weiß, was er den Bundesbahnen schuldet: die Würde der Montur und damit der gesamten Schaffnerschaft zu wahren. Zwischen dem Franz-Josefs-Bahnhof und der Spittelau öffnet er seinen schwarzen Lederkoffer. Bis Nußdorf entnimmt er dem Koffer
    1. seine Jause (zwei Wurstsemmeln und eine Flasche Bier),
    2. eine Rätselzeitschrift (Sudoku),
    3. einen Flaschenöffner,
    4. einen Kugelschreiber und
    5. den ärarischen Fahrscheincomputer.
    In Weidling, spätestens in Kierling macht der Mikulitsch eine kleine Verschnaufpause. Sein Werkzeug hat er mittlerweile akkurat im Abteil platziert: die Jause und den Flaschenöffner auf dem Tischchen beim Fenster, die Zeitschrift und den Kugelschreiber auf dem mittleren Sitz, den Computer auf der Ablage neben der Gangtür. Der Mikulitsch setzt sich ans Fenster, betrachtet die Landschaft und sinniert. Er widersteht dem Drang, die Bierflasche schon jetzt zu öffnen; er wird sie später noch brauchen, um die Wurstsemmeln hinunterzuspülen.
    Kurz vor der Station Kritzendorf pflegt der Mikulitsch aufzustehen. Er schließt die Augen, atmet durch und spürt dem sanften Schaukeln des Waggons nach. Der Mikulitsch macht sich bereit, er sammelt sich, er transformiert gewissermaßen die kinetische Energie des Zuges in jene konzentrierte Geisteskraft, die auch ein guter Schauspieler vor seinem Auftritt durch den Körper strömen fühlt.
    Dann aber geht es Schlag auf Schlag. Höflein: Der Mikulitsch öffnet die Augen und wirft sich in Pose. Greifenstein: Der Mikulitsch hängt sich den Fahrscheincomputer um. Sankt Andrä-Wördern: Der Mikulitsch prüft den Sitz seiner Uniform. Zeiselmauer-Königstetten: Der Mikulitsch streicht sich den Schnurrbart glatt, öffnet die Tür und tritt aus dem Abteil. Mit einem sonoren «Zugestiegen?» beginnt er seine Runde durch den Zug, eine Runde, die naturgemäß eher eine Gerade ist.
    Heute aber ist alles anders. Heute ist ein schlechter Tag, ein wolkenverhangener, diesiger, drückend schwüler Tag. Ein Tag, an dem die Statistiker einen signifikanten Tiefpunkt der österreichischen Volkswirtschaftsleistungskurve feststellen könnten, wären sie heute nicht selbst so reizbar und unkonzentriert. Man wartet auf das erlösende Unwetter, aber das Unwetter ziert sich.
    Auch der Mikulitsch wartet. Und so kommt es, dass er – ganz entgegen der Usance – sein Coupé erst in Muckendorf-Wipfing verlässt.
    «Zugestiegen?» Der Mikulitsch streift durch den Gang, wirft seine Blicke nach links und nach rechts: erfahrene, unbestechliche Adlerblicke, Blicke eines Croupiers am Roulettetisch. «Zugestiegen?»
    Die wenigen Passagiere tragen bekannte Gesichter: Schulkinder und Pendler, alle im Besitz von Jahreskarten. «Servus», nickt der Mikulitsch nach links und nach rechts. Der Zug fährt in Langenlebarn ein, und der Mikulitsch wechselt in den zweiten Waggon.
    Hier kann er nur einen einsamen Reisenden ausmachen: einen Mann mit Krawatte und Anzug, der – mit gedankenverloren zur Seite geneigtem Kopf – aus dem Fenster starrt.
    «Zugestiegen?», sagt der Mikulitsch. Der Mann reagiert nicht. «Zugestiegen, der Herr?», probiert der Mikulitsch es noch einmal. Wieder keine Antwort. Gehörlos, konstatiert der Mikulitsch, der seinen Kunden grundsätzlich mit Wohlwollen begegnet, sie also nie vorab des Schwarzfahrens verdächtigt.
    Der Mikulitsch beugt sich vor, um dem Mann ins Gesicht zu sehen. Ein durchaus normales, gut rasiertes, etwa vierzigjähriges Gesicht, normal jedenfalls bis auf den Mund: Von einer unnatürlich dicken, dunkelgrünen Zunge auseinandergezwängt, stehen die Lippen weit offen. Erst bei näherer Betrachtung erkennt der Mikulitsch, dass dieses glänzende, grüne Objekt gar nicht die Zunge des Mannes ist. Der Mikulitsch ist am Land aufgewachsen, er kann eine ausgewachsene Salatgurke selbst dann als solche identifizieren, wenn der Großteil der Gurke im Rachen eines Fahrgasts steckt.

    «Albert Jeschko, Gastronom», brummt Polivka und klappt die Brieftasche des Toten zu. «Und Sie haben den Toten entdeckt?», wendet er sich an den Mikulitsch.
    «In Langenlebarn, ja, Herr Kommissar. Ich habe gleich den Zugführer verständigt, und wir haben beschlossen, mit dem verstorbenen Herrn nach Tulln weiterzufahren, um ihn mitsamt dem Tatort,
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