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Kalter Schmerz

Kalter Schmerz

Titel: Kalter Schmerz
Autoren: Hanna Jameson
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Clare Dyer organisieren mussten. Das Eigentum würde verteilt und das Haus verkauft werden. Ich konnte mir niemand anderen in ihrer Küche vorstellen, denn alles, was mir davon in Erinnerung blieb, war das Blut auf meinen Unterarmen und langsame Pirouetten auf Glas. Ich fragte mich, wer wohl die Statue nehmen oder ob ein vernünftiger Mensch sie vollends zertrümmern würde.
    »Alles klar?«, fragte Mark.
    Wahrscheinlich dachte er zu gut von mir, als dass ihm die Idee gekommen wäre, ich könne noch immer über sie grübeln. Er rechnete vielleicht damit, dass ich über Tony oder meinen Vater nachdachte, über etwas Angemesseneres, aber sie beherrschte meinen Körper wie eine Krankheit.
    »Ja … Ja, Scheiße. Lass uns gehen. Zu Hause gibt’s wenigstens Brandy.«
    Er grinste und legte mir, als wir zur Straße gingen, den Arm um die Schulter. »Brandy ist das Getränk der Helden, Mr. Caruana …«
    Lachend durchsuchte ich meine Taschen nach einer Schachtel Zigaretten, während wir an einem weiteren Wagen vorbeigingen, an dem der Union Jack flatterte.
    »Ich hasse Weihnachtslieder«, sagte ich und holte das Feuerzeug hervor. »Und weißt du, was noch? Ich hasse Gedichte wie die Pest.«
    Mark lächelte und salutierte vor der Flagge.
    »Oi.« Harriet trat von hinten an mich heran und schlug mir auf die Schulter. »Dieser Kumpel von dir ist immer noch da, er will dich kurz sprechen.«
    Ich runzelte die Stirn. »Was?«
    »Als ich meine Tasche holen wollte, hing da noch so’n junger Typ rum. Brille, musste ständig inhalieren. Er meinte, er wollte dich an irgendwas erinnern. Ich hab gesagt, du wärst draußen, aber …«
    Ich lief bereits wieder auf die Kirche zu, fort von den Autos, den Menschen und ihren betäubten Mienen. Eiskalte Luft biss mir ins Gesicht, bis ich wieder im Gebäude war, doch dort erwartete mich nichts außer Stille und leerer Bänke, einem Altar und einem goldenen Kreuz.
    In letzter Zeit hatte ich Schwierigkeiten gehabt zu schlafen, weil das Bewusstsein an mir nagte, dass Tristan wusste, wo ich lebte. Ich ertappte mich dabei, dass ich Ausschau nach ihm hielt, vom Fenster aus, in der U-Bahn, im Rückspiegel, durch die Windschutzscheiben der Autos hinter mir …
    Ich schlich den Gang entlang, trat leise auf, betrachtete die Figuren in den Bleiglasfenstern. Die Heiligen blickten mit ernsten Gesichtern und traurigen Augen auf mich herab. Vor mir war das Bild von Tony. Der süße kleine Scheißer.
    »Tris?«, sagte ich und lauschte auf eine Antwort inmitten des Echos, auf das Ächzen des Inhalators.
    Nichts.
    Es sein lassen? Von wegen …
    »Tris!« Ich rief lauter, Großmäuligkeit vortäuschend, um mein Unbehagen zu verbergen. »Komm her!«
    Ich erreichte die erste Bankreihe. Dort lag etwas. Tonys Blick folgte mir, als ich mich vor ein Gebetbuch setzte, aber mein Bruder war der einzige Zeuge. Ich nahm die weiße Plastikflasche in die Hand und schälte das Papier ab, das darum geklebt war, während ich mich erneut in der Kirche umschaute.
    Es war sinnlos. Er war weg. Es war, als bräuchte er keinen Ausgang. Halb rechnete ich damit, dass er mich aus einer der Szenen heraus beobachtete, die auf den Kirchenfenstern dargestellt waren.
    Auf dem Zettel stand: Die Chinesen genossen das Schauspiel des Todes, so hatte Jim festgestellt, als eine Form der Erinnerung an die Vergänglichkeit ihres eigenen Daseins.
    Allerdings: vergänglich. Ich lächelte sparsam.
    In der Flasche war Beize.
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