Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen
Autoren: Gerd Heidenreich
Vom Netzwerk:
I Nie wieder Tod
    Mittagsstille. Die Place Robert Gréverie war menschenleer. Eine braun-weiß gefleckte Katze schlich um das Grabmal des Unbekannten Soldaten. Swoboda hatte das Gefühl, dass er aus allen Häusern am Rand des Platzes beobachtet wurde. Er zögerte. Das Haus Nummer sechs war in keinem guten Zustand. Die einst cremefarbene Fassade war stockfleckig und von Rissen durchzogen. In der Mitte der ersten Etage stand ein Treppenhausfenster offen. Im Erdgeschoss geschlossene Lamellenläden, die in der Salzluft der nahen Küste ihren Anstrich verloren hatten. Von den Fensterbänken zogen sich auf dem Verputz dunkelgraue Schmutzfahnen zum Trottoir hinunter. Die Haustür war nicht verschlossen. Die Flurbeleuchtung klickte, funktionierte aber nicht. Trotz des starken Luftzugs ein deutlicher Schimmelgeruch. Swoboda gewöhnte sich an das Halbdunkel. »Hallo? – Madame O’Hearn?« Ein schmaler Korridor. Steinfußboden. Linker Hand führte eine Treppe vom Ende des Gangs nach oben. Dort musste das offene Fenster sein: Auf das Geländer und die Stufen fiel ein heller Schimmer.
    Seine Schritte kamen ihm zu laut vor. Er blieb stehen und rief sich in Erinnerung, was er sagen wollte. »Verzeihen Sie bitte, ich hoffe, ich störe Sie nicht, mein Name ist Swoboda, ich komme aus Deutschland. Erinnern Sie sich an mich? Nein?« Wie eine Litanei hatte er sich auf der Fahrt nach Valmont diese Sätze auf Französisch, so gut er eben konnte, vorgesagt; er war sich nicht sicher, ob es die richtigen Worte waren. Wichtig war vor allem, mit Janine O’Hearn ins Gespräch zu kommen, einen Anfang zu finden. Ihr Gesicht zu sehen. Die Ungewissheit zu beenden, die ihn seit Monaten beunruhigte, und Madame O’Hearns Erinnerung mit seiner eigenen zu vergleichen. Franzosen, sagt man, setzen voraus, dass jeder Französisch mit ihnen spricht. Auch wenn die alte Dame damals passabel Deutsch gesprochen hatte und gewiss Englisch verstand, wollte er es in ihrer Muttersprache versuchen. »Je suis allemand, je m’excuse. Vous êtes Madame O’Hearn? Mon nom est Swoboda, Alexandre Swoboda. Vous étiez à Edinburgh, non? La tour de la Musée de la Camera Obscura, n’est ce pas? J’étais là aussi. Nous avons vu …« Jetzt würde er ihr die Wahrheit sagen. Dass er damals im Turm der Camera Obscura von Edinburgh nicht der Tourist war, für den er sich ausgegeben hatte, sondern ein Kriminalkommissar außer Dienst, pensioniert, en retraite ; oder nein: Eigentlich sei er Maler, tatsächlich, peintre, vraiment. »Aber die Kunst ernährt das Leben nicht, Sie verstehen, Madame? Les beaux-arts ne nourrissent pas la vie …« Nein, er habe nicht versucht, sie telefonisch zu erreichen. Seit dem Sturm gestern seien die Leitungen tot, habe ihm der Portier im Hotel Normandie lachend erklärt, das sei üblich hier: Kommt der Sturm, bleibt das Telefon weg, die Leitungen sind dann »cassées«, und nicht nur das Telefon, manchmal auch der Strom. Eine Mobilnummer von ihr hatte er leider nicht. Nein, nein, er wolle weiter nach Honfleur, zum Museum Boudin. In Fécamp sei er nur für ein paar Tage. Und dann? Vielleicht bot Janine O’Hearn ihm eine Tasse Tee an – dazu, wenn sie sich über seinen Besuch freute, einen harten Calvados oder süßen Pommeau, wenn nicht gar einen klebrigen Bénédictine, bestimmt auch Kekse, alte Damen hatten immer Kekse. Er würde mit ihr über den Toten von Edinburgh sprechen. Und ihr Gesicht betrachten. Prüfen, ob sein Gedächtnis irgendetwas davon bewahrt hatte. Wenn er Glück hatte, würde Madame O’Hearn sich besser als er an jenen Vormittag erinnern, an dem alle, die im dunklen Raum um den Bildtisch der Camera Obscura standen, jenen Vorfall beobachtet hatten: den Mord, der am helllichten Mittag unten auf dem Parkplatz vor dem Kastell begangen wurde, während sie oben im Turm wie Kinder das Abbild der Außenwelt auf dem weißen Tisch anstarrten. Dort lief ein Film, der kein Film war. Nichts als Gegenwartslicht, vergänglicher Augenblick. Eine vage Vorstellung von Madame O’Hearn war ihm geblieben. Die gebeugte, zarte Gestalt, ihr tastender Gang, als müsse sie jeden Schritt zuvor innerlich prüfen. Aber das Gesicht? War es liebevoll, hilflos gewesen? Er stellte sich eine Frisur vor: rotbraun gefärbte Haare, auf der Höhe der Ohrläppchen gekappt und vor der Stirn in einer fast verwegenen Linie schräg geschnitten. Gehörte das Bild tatsächlich zu Madame O’Hearn?
    Seit fast einem Jahr quälte Swoboda sich mit Zweifeln an seinem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher