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Kalter Schmerz

Kalter Schmerz

Titel: Kalter Schmerz
Autoren: Hanna Jameson
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gibt’s überall. Aber ehrlich, tut mir leid, das muss … schwierig sein, wehtun, keine Ahnung. Du kannst es wahrscheinlich nicht mehr hören, wenn alle immer dasselbe sagen, immer dasselbe …« Sie legte den Kopf auf meinen Arm und schwieg eine Weile.
    Ich blinzelte heftig, wurde langsam benommen von den Drogen. Es war ein gutes Gefühl, einen kurzen Urlaub von all den ernsten Gedanken zu machen. Mir kam in den Sinn, dass Mark sie mögen würde.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich. »Die Miete müsste doch bald aufgebraucht sein.«
    »Dann packe ich eben meine Sachen. Ich hab dieses Haus eh satt, ist ein komisches Gefühl, wo Meds oben gestorben ist und … Ich penne fast eh nur noch hier unten. Ich glaube nämlich an Geister und so, und ich würde total ausflippen, wenn ich zugucken müsste, wie er hier rumschwebt mit seinen ätzenden Insulinspritzen. Er wäre der schlimmste Geist aller Zeiten.« Sie überlegte. »Der Junge fehlt mir ein bisschen. Ems fehlt mir total … So eine Verschwendung, Mann, so eine Verschwendung.«
    Ich hatte überlegt, ob ich ihr von Pat und Clare erzählen sollte, war aber zu dem Schluss gekommen, dass es sinnlos war. Ich dachte die ganze Zeit: Lass es sein. Lass. Es. Sein. Es war eine Verschwendung. Daisy hatte gar keine Ahnung, was für eine Verschwendung es gewesen war.
    Ich zog sie enger an mich.
    Sie lachte belustigt, aber ließ es geschehen.
    »Was machst du denn über die Feiertage?«, fragte ich, kurz vorm Einschlafen.
    »Keine Ahnung, das Übliche?« Sie gestikulierte viel beim Sprechen. »Wahrscheinlich besaufe ich mich mit Wodka, guck mir Tatsächlich … Liebe an und heule.«
    »Hört sich gut an.«
    »Ach ja, und tanze mit einer Bürste vorm Spiegel.«
    »Lustig, genau dasselbe hatte ich auch vor.«
    Lachend boxte sie mir gegen den Arm. »Ha, du schwule Sau!«

38
    Wir kamen zu spät zur Begrüßung, aber das verschaffte mir die Ausrede, die ich brauchte, um mich nach hinten setzen zu können. Überall waren Flaggen, in den Bänken saßen uniformierte Menschen mit Medaillen an der Brust.
    Ich sah, dass Mark, als wir uns setzten, die Gemeinde nach Harriet und meinen Eltern absuchte. Er war auf Attenborough’sche Weise fasziniert davon, wo ich herkam, ähnlich wie ich von seiner Herkunft.
    »Er hat nicht viel Ähnlichkeit mit dir«, flüsterte er.
    Ich folgte seinem Blick zu Tonys Bild, etliche Reihen vor uns, und war erschüttert, als ich sein Gesicht wiedersah. In den vergangenen Monaten war es für mich zu einem verschwommenen Fleck geworden. Ich versuchte, etwas zu empfinden, schaffte es aber nicht. Ich versuchte sogar, Erinnerungen heraufzubeschwören aus der Zeit, als ich klein war und ihn noch mochte, aber es funktionierte nicht.
    »Ja, er kommt nach Mum«, sagte ich. »Hat so blondes Haar wie sie. Harri hat ihn früher immer den süßen kleinen Scheißer genannt.«
    Ich versuchte, Harriet zu erspähen, aber gab auf. Mein Anzug nervte mich.
    Ein eindrucksvoller Mann in einer Militäruniform räusperte sich und begann, ein Gedicht vorzulesen.
    » Dein Leben setztest du aufs Spiel für andere Tag um Tag … «
    »Leck mich«, murmelte ich.
    »Was ist?«
    »Ich wusste, dass das hier so ein Scheiß werden würde.«
    Im Auto hatte ich den Eindruck gehabt, dass Mark mir nichtglaubte, als ich ihm erzählte, warum ich nicht hatte herkommen wollen. Er glaubte, mein Widerwille sei eine Art Trauersymptom, keine wirkliche Abneigung.
    Harriet und mir würde niemals ein solches Maß an Schönfärberei zuteilwerden.
    Mark wirkte verblüfft.
    »Von wegen in den Himmel heben«, sagte ich als Erklärung.
    Ich konnte hören, wie Mum weinte. Es war ein ungewohntes, quälendes Geräusch, einer Erinnerung entrissen. Das letzte Mal, als ich Mum weinen gehört hatte, war, als einer meiner Onkel gestorben war, ihr jüngerer Bruder aus Inverness. Ich war noch klein gewesen, zehn oder elf Jahre, und hörte es durch die Schlafzimmerwand. In dem Alter glaubte ich noch, Eltern wären nicht in der Lage zu fluchen und schon gar nicht zu weinen.
    »Wir bestaunten deinen Mut, mehr noch als du erahntest …«
    Ich roch Blumen und schmeckte Kupfer.
    Die Stimme des Mannes wurde von den steinernen Wänden zurückgeworfen.
    Am liebsten hätte ich dem Nächstbesten seinen Plastikkranz aus der Hand gerissen und ihn damit erwürgt.
    Ich musste an den Tag denken, als es passiert war, als ich nach Hause kam und so heftig zitterte, dass ich noch nicht mal den Schlüssel in die Tür stecken konnte. Tony hatte
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