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Kalifornische Sinfonie

Kalifornische Sinfonie

Titel: Kalifornische Sinfonie
Autoren: Gwen Bristow
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aufzuwärmen?«
    Mehrere Wochen lang war Oliver bereits auf solche Weise ins Haus gekommen, bis Garnet auffiel, daß er eine erstaunliche Geschicklichkeit darin entwickelte, die Stunden abzupassen, wo sie allein zu Haus war. Obgleich sie so etwas wie eine geheime Beunruhigung empfand, erfreute sie sich doch viel zu sehr an seinen Besuchen, als daß sie ihren Eltern gegenüber eine Bemerkung in dieser Richtung gemacht hätte. Sie sagte mit betonter Gleichgültigkeit: »Nebenbei, Vater, Mr. Hale kam heute vorbei und brachte Papiere für dich. Ich legte sie auf deinen Schreibtisch.« Wenn sie sich so oder ähnlich äußerte, empfand sie ein leichtes Schuldgefühl, aber es fiel ihr nicht ein, zu erzählen, daß Oliver nicht fünf Minuten, sondern eine Stunde bei ihr geweilt habe.
    Eines Morgens im Januar 1845 saß Garnet, mit einer Musikübung beschäftigt, am Klavier. Es war ein kalter, aber strahlend heller Tag; wenn sie von ihren Noten aufsah, sah sie das Eis auf den Baumzweigen vor dem Fenster glitzern. Wenn das Sonnenlicht die Zweige streifte, funkelten die Eiskristalle in den Farben des Regenbogens. Garnet erfreute sich an dem Anblick. Sie liebte außergewöhnliches Wetter, sie liebte Sonne und Regen und Sturm und Schnee, das heimliche Knistern in den Zweigen der Bäume und alle keimenden und wachsenden Dinge der belebten Natur.
    Garnets Klavier stand in dem kleinen Wohnzimmer, das täglich benützt wurde. Der steife und feierliche Salon am anderen Ende der Halle war festlichen Gelegenheiten vorbehalten. Hier im Wohnzimmer standen Buchregale an den Wänden; gute Bilder und bequeme Polstersessel schufen eine behagliche Atmosphäre. Auf dem Tisch lagen heute der N EW Y ORK H ERALD, die Januarausgaben von G RAHAMS M AGAZINE und G ODY’S D AMENHANDBUCH. Mr. Cameron hatte am Vortage von einem Spaziergang Büschel von Tannenzweigen mit Zapfen mitgebracht und auf dem Kaminsims arrangiert. Er hatte gern lebendiges Grün im Zimmer, wenn es draußen fror.
    Die durch das Fenster hereindringenden Sonnenstrahlen spielten auf Garnets schwarzem Haar und zauberten bläuliche Schatten darauf. Das Licht tanzte auf den Falten ihres Kleides. Es war dies ein bezauberndes Kleid aus reiner weißer Wolle mit roten Blumen bestickt. Kleine rote Knöpfe schlossen das Mieder; der weite Rock wallte von der schmalen Taille aus bis zum Fußboden nieder. Ihre Finger glitten hingegeben über die Tasten. Niemand, der sie so sah, konnte auf den Gedanken kommen, sie hätte die Einladung ihrer Mutter, sie zu einem Einkauf zu begleiten, abgelehnt, weil sie eine geheime Hoffnung im Herzen trug.
    Garnet hatte sich bei ihrer Mutter damit entschuldigt, daß sie sehr viel üben müsse. Das war immerhin wahr. Sie hatte in diesem Januar ihren neunzehnten Geburtstag gefeiert und bei dieser Gelegenheit viele neue Noten geschenkt bekommen. Schließlich mußte sie den Freunden, die ihr die Noten geschenkt hatten, etwas vorspielen können, wenn sie zu Besuch kamen. Dennoch war ihr empfindliches Gewissen ein wenig bedrückt. Denn obgleich ihre Mutter ein Engel und viel vernünftiger war, als andere Leute, würde sie es doch keineswegs gutgeheißen haben, daß ihre Tochter so oft und so lange mit einem jungen Mann allein blieb, wie sie es in diesem Winter mit Oliver Hale gewesen war. Für junge Damen, die sich nicht damenhaft betrugen, hatte Mrs. Cameron weniger Verständnis als für einen Dieb oder Fälscher, und Garnet wünschte ihre Mutter nicht zu betrüben.
    Sie hatte soeben einen Walzer beendet und legte die Noten für eine Quadrille zurecht, als die Tür sich öffnete und Mrs. Cameron eintrat. Mrs. Cameron war keine Schönheit, wohl auch niemals eine gewesen. Aber sie war eine schlanke, gutgewachsene dunkle Frau von achtunddreißig Jahren; ihre Figur stand der ihrer Tochter nur wenig nach. Sie war fertig zum Ausgang gekleidet. Das gut geschnittene Straßenkostüm kleidete sie vorzüglich; sie trug dazu einen Kamelhaarschal und einen Hut mit Bändern und einer wippenden Feder. Sie lächelte, da sie Garnet im Sonnenlicht sitzen und so eifrig beschäftigt sah. »Ich gehe jetzt, meine Liebe«, sagte sie, »soll ich dir irgend etwas mitbringen?«
    »Ich hätte gern rotes Seidenband für das weiße Kaschmirkleid«, versetzte Garnet, die sich beim Eintritt ihrer Mutter erhoben hatte. »Das alte ist beim Bügeln zerschlissen; vielleicht war das Eisen zu heiß.«
    Mrs. Cameron nickte: »Ich werde daran denken.« Sie tat einen Schritt ins Zimmer hinein; ihr Blick fiel
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