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Kalifornische Sinfonie

Kalifornische Sinfonie

Titel: Kalifornische Sinfonie
Autoren: Gwen Bristow
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zu bewegen – in Miß Waynes Institut hatte sie genügend Gelegenheit gehabt, sich darin zu üben. Beispielsweise hatte es zu ihren täglichen Exerzitien gehört, mehrmals eine schmale Wendeltreppe hinauf und hinab zu schreiten und dabei ein Buch auf dem Kopf zu balancieren. Garnet erfreute sich einer ausgezeichneten Gesundheit, sie sprühte vor Frische und Lebenskraft und nahm großes Interesse an allen Dingen des Lebens. Ihre Wißbegierde war außerordentlich, sie hätte am liebsten alles gewußt. Der größte Vorwurf, den sie der Welt zu machen hatte, war der, daß sie ihr zu wenig Chancen bot, ihre Geheimnisse kennenzulernen. Freilich hütete sie sich, Wünsche dieser Art laut werden zu lassen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse ihrer Erziehungsjahre war, daß niemand Wert darauf legte, die Meinung einer jungen Dame zu irgendeiner Sache kennenzulernen.
    Die Wohnung von Garnets Eltern befand sich am Union Square in der City von New York. Die Häuser gruppierten sich hier rund um einen Park, in welchem zur Sommerszeit ein Springbrunnen sein Wasser versprühte, in dem Kinder mit Reifen spielten und Damen und Herren auf sauber gepflegten Kieswegen promenierten. Den Union Square umgab jederzeit eine Aura vornehmer Geborgenheit, sowohl im Sommer, wenn das Grün der Bäume und Büsche in der Sonne leuchtete, als auch im Winter, wenn die kahlen Zweige vor dem grauen Himmel standen und der Feuerschein der Kamine die Fenster erglühen ließ. Eine ruhige, angenehme Gegend, von ruhigen, angenehmen Leuten bewohnt.
    Garnets Vater, Mr. Horace Cameron, war Vizepräsident einer Bank in Wall Street; ihre Mutter war eine charmante Frau, die das Leben im allgemeinen ganz annehmbar fand und ohne weiteres voraussetzte, daß es so bleiben würde. Garnets jüngere Brüder, Horace jun. und Malcolm, besuchten die Elementarschule, deren Aufgabe es war, die Jungen für das Columbia College vorzubereiten. Die Camerons waren eine ruhige, angenehme Familie wie alle Familien in dieser Gegend; alle ihre Mitglieder waren gut erzogen und wußten sich gut zu benehmen. Als Garnet ihre drei Institutsmedaillen vorzeigte und einen vorschriftsmäßigen Knicks machte, versicherten die Freundinnen ihrer Mutter, daß sie das Idealbild einer guterzogenen jungen Dame verkörpere; vielmehr, daß sie nahe daran sei, es zu verkörpern; leider werde der Eindruck der Vollendung durch die intensive Kontrastierung von Rot und Schwarz in ihrem Gesicht empfindlich beeinträchtigt. Wirklich, es sei ein Jammer, daß ihr Teint nicht zarter und vornehmer sei. Nichtsdestoweniger sei sie ein nettes und reizvolles Mädchen und werde zweifellos eine gute Partie machen.
    Als Garnet am Abend ihrer Heimkehr aus Miß Waynes Institut ihre drei Medaillen in eine Schublade ihrer Kommode legte, stieß sie unwillkürlich einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Schulzeit lag hinter, das Leben lag vor ihr. In einigen Wochen, sobald die notwendigsten Einkäufe getätigt waren, würde sie mit der Mutter nach Rockaway Beach fahren, um dort ihre Ferien zu verbringen. Sie würden in einem eleganten Hotel wohnen, würden zahllose interessante Bekanntschaften machen und sie würde nicht mehr an Miß Wayne und ihre Ermahnungen denken müssen. Sie war eine erwachsene junge Dame und hatte ein Recht darauf, aufregende Dinge zu erleben. Aber zunächst geschah gar nichts, weder in Rockaway Beach, noch, nach ihrer Rückkehr, in New York.
    Allerdings erhielt sie zwei Heiratsanträge, die sie ohne lange Überlegung zurückwies. Der erste kam von einem jungen Herrn, den sie in Rockaway Beach kennengelernt hatte. Er entstammte einer guten Familie, aber Garnet fand ihn so dumm, daß sie meinte, man würde gut daran tun, ihn einzusperren. Natürlich sagte sie das nicht; ihre Mutter hatte sie gelehrt, wie man einen unerwünschten Antrag ablehnt. Der junge Herr nahm den Eindruck mit, Garnet werde sich zeit ihres Lebens seiner mit Sehnsucht erinnern.
    Den zweiten Antrag erhielt sie im September von Henry Trellen, einem reichen jungen Mann, der als einziger Sohn seiner Eltern ein bedeutendes Vermögen zu erwarten hatte. Sein Vater lebte nicht mehr; er selbst bewohnte mit seiner Mutter ein großes dunkles Haus in Bleecker Street. Das Haus erinnerte Garnet an ein Mausoleum, und Henrys Mutter gemahnte sie an den Marmorengel eines Grabmonuments. Der junge Herr selbst langweilte sie bis zum Gähnen. Sie war sicher, daß sie sich nach einer Heirat mit ihm für den Rest ihres Lebens wie auf einem Friedhof
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