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Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)

Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)

Titel: Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)
Autoren: Kera Jung
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1.
    „Komm Sweety, wir müssen uns beeilen!“ Ihre Lippen sind schmal, während sie ihn eilig die dunkle Gasse entlangzieht.
    Mit großen, leuchtenden Augen sieht der kleine Junge zu ihr auf und bemüht sich krampfhaft, sein zunehmendes Keuchen zu verbergen.
    Seine Mommy!
    Die schönste Frau der Welt. Daddy sagt das auch immer. Andrew liebt sie über alles und mag es gar nicht, sie ängstlich zu sehen. Wie im Moment zum Beispiel.
    Aufmerksam blickt er sich um, richtet sich unwillkürlich ein wenig auf und kneift die Augen zusammen, versucht, in der Dunkelheit irgendetwas auszumachen. Vor allem alles Gefährliche, was sich ihnen nähern könnte.
    An fast jedem Abend laufen sie hier entlang. Immer dann, wenn Daddy arbeiten ist. Mommy hat Andrew erklärt, dass der Vater sehr traurig sei, seine Familie so selten sehen zu können. Und deshalb habe sie beschlossen, ihn abends zu besuchen. Das leuchtet Andrew sehr wohl ein, obwohl er seinen Dad lieber häufiger zu Hause gehabt hätte.
    Der Weg zu dessen Arbeit ist sehr, sehr weit und auf dem letzten Stück wird es sogar ein wenig gruselig.
    Egal, wie viele große Lichter Mutter und Sohn sonst passieren, hier gibt es kein einziges. Manchmal spiegelt sich der Mond in den schmutzigen Pfützen, die nach dem Regen eine Zeitlang das unebene Pflaster bedecken. Und nur mit viel Mühe kann man die düsteren, korpulenten Gestalten ausmachen, die in unregelmäßigen Abständen an der Hauswand Stellung bezogen haben. Wie stumme, reglose Wächter.
    Andrew musste etliche Male an ihnen vorübergehen, bis er sie schließlich als das erkannte, was sie sind:
    Mülltonnen.
    Dickbäuchige, metallene Behälter, mit schiefsitzenden Deckeln, die scheinbar immer überfüllt sind. Ständig quillt stinkender Unrat unter den Deckeln hervor. Die Hinterlassenschaften der Fast-Food-Restaurants und kleinen Pubs, deren Hinterausgänge auf die kleine, verwaiste Gasse führen.
    Andrew mag es hier nicht.
    Es stinkt widerlich. Und nicht nur nach vergammelten Essen, sondern darüber hinaus nach Dingen, die er sich besser gar nicht so genau vorstellen will.
    Mommy fühlt sich hier auch nicht wohl, weshalb Andrew immer so extrem schnell laufen muss. Dennoch breitet sich jedes Mal ein unvorstellbar warmes Gefühl in seiner Brust aus, wenn sie nach dem endlosen Fußmarsch endlich diese Etappe erreichen.
    Es ist die Letzte.
    Am anderen Ende kann man bereits das große Gebäude mit den vielen grellen Lichtern ausmachen. Wie ein heller, Hoffnung spendender Lichtstrahl am Horizont.
    Dort wartet sein Daddy ...
    * * *
    Kaum ist es in Sicht, läuft Andrew sogar noch schneller und ignoriert dabei tapfer seine schmerzenden Füße.
    Die neuen Schuhe drücken brutal, doch er wagt nicht, seiner Mommy davon zu erzählen.
    Schuhe sind teuer, man kann nicht so einfach ein neues Paar kaufen. Und weil Andrew nichts weniger will, als seine Mutter traurig zu machen, läuft er mit zusammengebissenen Zähnen und bemüht sich, mit ihr Schritt zu halten. Obwohl er längst völlig außer Atem ist.
    Viel zu spät sieht er den Stein und versucht trotzdem, noch auszuweichen. Doch der müde, kleine, gemarterte Fuß will den Befehlen seines Besitzers nicht länger gehorchen.
    Als er stolpert und in der gleichen Sekunde fällt, prallt sein Knie schmerzhaft auf jenen scharfkantigen kleinen Fels, dem er doch eigentlich entgehen wollte. Er hört das Reißen, als seine Jeans dem Angriff nachgibt und bekommt sogar Zeit, sich zu schämen. Auch neue Hosen sind teuer. Augenblicklich breitet sich klebrige Wärme auf seinem Bein aus.
    „Andy, hast du dir wehgetan?“ Schon kniet seine Mommy neben ihm. Mit besorgtem Blick hilft sie ihm beim Aufstehen. „Kannst du laufen?“
    Bevor Andrew ihr versichern kann, dass er auf jeden Fall laufen könne und es auch ganz bestimmt nicht wehtut, weil er nämlich bereits vier Jahre alt ist und damit fast ein Mann, ertönt eine unbekannte Stimme. Sie ist rau, alt, verbraucht und brüchig.
    „Oh lala, Baby ...“
    Mutter und Sohn sehen im gleichen Moment auf. Direkt hinein in eisig blaue Augen, in denen das Weiße seltsam gelblich wirkt.
    Andrew wird an der Hand gepackt und bevor er weiß, wie ihm geschieht, findet er sich in einem der kleinen Holzverschläge wieder, die neben den Mülltonnen errichtet wurden. Während seine Mommy sich vor ihm aufbaut und mit ihrem Körper die Sicht auf den kleinen Sohn verdeckt ...
    Der Mann mit den eisig blauen Augen scheint indes noch ein paar Freunde gerufen zu haben, denn
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