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Julia

Julia

Titel: Julia
Autoren: Anne Fortier
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meine Schuld gewesen war. Mit achtzehn hatte ich lediglich den dringenden Wunsch verspürt, nach Italien zu reisen und das Land zu sehen, in dem ich geboren war.
    Als ich damals an meinem College vor dem schwarzen Brett stand und wehmütig die bunten Plakate betrachtete, mit denen für Studienreisen und teure Sprachkurse in Florenz geworben wurde, war ich auf ein kleines Poster gestoßen, auf dem der Krieg im Irak und alle daran teilhabenden Länder scharf verurteilt wurden. Wie ich aufgeregt feststellte, gehörte auch Italien zu diesen Ländern. Der untere Teil des Plakats bestand aus einer Liste mit Daten und Flugzielen. Jeder, der sich für die Sache interessierte, war eingeladen mitzumachen. Eine Woche in Rom - inklusive Flug - würde mich nicht mehr als vierhundert Dollar kosten, was genau dem Betrag entsprach, den ich noch auf meinem Konto hatte. In meiner Naivität ahnte ich nicht, dass der niedrige Preis nur dadurch zustande kam, dass wir mit ziemlicher Sicherheit nicht die ganze Woche bleiben würden und die Kosten für den Rückflug und die letzte Übernachtung -falls alles nach Plan lief - von den italienischen Behörden übernommen werden würden, beziehungsweise vom italienischen Steuerzahler.
    Ohne ganz begriffen zu haben, worin Sinn und Zweck der Reise eigentlich bestanden, schlich ich ein paarmal um das Plakat herum, ehe ich schließlich unterschrieb. Als ich mich nachts im Bett herumwarf und grübelte, wusste ich plötzlich, dass ich die falsche Entscheidung getroffen hatte und sie möglichst schnell rückgängig machen musste. Am nächsten Morgen erzählte ich Janice davon. Sie verdrehte bloß die Augen und sagte: »Hier ruht Jules, die zwar kein tolles Leben hatte, aber einmal fast nach Italien gereist wäre.«
    Offenbar musste ich da einfach durch.
    Als vor dem italienischen Parlament die ersten Steine flogen - geschleudert von zwei meiner Mitreisenden, Sam und Greg -, wäre ich am liebsten wieder zu Hause gewesen und hätte mir ein Kissen über den Kopf gezogen. Aber ich steckte wie alle anderen in der Menge fest, und nachdem die römische Polizei genug hatte von unseren Steinen und Molotow-Cocktails, wurden wir alle mit Tränengas getauft.
    Es war das erste Mal in meinem Leben, dass mir durch den Kopf schoss: Ich könnte jetzt sterben. Während ich auf dem Asphalt lag und die Welt - Beine, Arme, Erbrochenes - nur noch durch einen Nebel aus Schmerz und Fassungslosigkeit wahrnahm, vergaß ich vollkommen, wer ich war und wo ich hinwollte. Vielleicht war es in früheren Jahrhunderten auch den Märtyrern so ergangen, jedenfalls entdeckte ich einen anderen Ort - einen Ort, der weder Leben noch Tod war. Dann aber kehrten sowohl der Schmerz als auch die Panik zurück, und nach einem kurzen Moment fühlte es sich definitiv nicht mehr wie ein religiöses Erlebnis an.
    Noch Monate später fragte ich mich, ob ich mich von den Ereignissen in Rom je ganz erholt hatte. Sooft ich mich zwang, darüber nachzudenken, quälte mich dieses nagende Gefühl, dass bei der Frage, wer ich war, irgendwo eine entscheidende Gedächtnislücke klaffte - etwas war auf dem italienischen Asphalt verschütt gegangen und nie wieder zum Vorschein gekommen.
    »Stimmt.« Umberto schlug den Pass auf und betrachtete mein Foto. »Zu Julia Jacobs haben sie gesagt, dass sie nicht mehr zurück nach Italien darf. Aber was ist mit Giulietta Tolomei?«
    Das musste ich erst mal verdauen: Ausgerechnet mein Umberto, der noch immer mit mir schimpfte, weil ich mich wie ein Blumenkind kleidete, drängte mich nun, gegen das Gesetz zu verstoßen. »Willst du damit sagen ...?«
    »Warum glaubst du, habe ich dieses Ding hier machen lassen? Es war der letzte Wunsch deiner Tante, dass du nach Italien fliegst. Brich mir nicht das Herz, Principessa.«
    Der aufrichtige Ausdruck in seinen Augen ließ mich erneut mit den Tränen kämpfen. »Und was ist mit dir?«, fragte ich schroff. »Warum kommst du nicht mit? Wir könnten den Schatz gemeinsam suchen. Und wenn wir ihn nicht finden, zum Teufel damit. Dann werden wir eben Piraten und machen gemeinsam die Meere unsicher ...«
    Umberto streckte die Hand aus und berührte mich ganz sanft an der Wange, als wüsste er, dass ich, wenn ich erst einmal weg war, niemals zurückkommen würde. Und sollten wir uns doch irgendwann wiedersehen, dann bestimmt nicht mehr so wie hier, wo wir gemeinsam in einem Kinderversteck hockten und der Welt draußen den Rücken zukehrten. »Es gibt ein paar Dinge«, sagte er leise, »die
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