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Julia

Julia

Titel: Julia
Autoren: Anne Fortier
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mir plötzlich bewusst, wie abgrundtief einsam ich mich fühlte, seit sie nicht mehr da war und ich auf der Welt nur noch Umberto hatte.
    Schon als junges Mädchen war es mir schwergefallen, Freundschaften zu schließen. Janice dagegen hätte wahrscheinlich Probleme gehabt, alle ihre Busenfreundinnen in einen Doppeldeckerbus hineinzupferchen. Jedes Mal, wenn sie abends mit ihrer kichernden Meute loszog, schlich Tante Rose eine Weile nervös um mich herum, angeblich auf der Suche nach ihrer Lupe oder dem Stift, den sie am liebsten für ihre Kreuzworträtsel verwendete. Irgendwann ließ sie sich dann neben mir auf dem Sofa nieder und tat, als interessiere sie sich für das Buch, das ich gerade las. Aber das nahm ich ihr nie ab.
    »Du weißt ja, Julia«, begann sie, während sie ein paar Staubkörner von meiner Schlafanzughose zupfte, »dass ich mich gut allein beschäftigen kann. Wenn du mit deinen Freundinnen ausgehen möchtest ...«
    Ihr Vorschlag hing jedes Mal eine Weile in der Luft, bis ich mir schließlich eine passende Antwort zurechtgelegt hatte. Die Wahrheit war, dass ich gar nicht aus Mitleid mit Tante Rose zu Hause blieb, sondern weil mir nichts am Ausgehen lag. Sooft ich mich von jemandem in eine Bar schleppen ließ, wurde ich am Ende immer von allerlei schrägen Typen und Hohlköpfen belagert, die alle zu glauben schienen, dass wir Teil einer Märchenaufführung waren, bei der ich mich - noch ehe der Abend vorüber war - für einen von ihnen entscheiden musste.
    Der Gedanke an Tante Rose, die so oft neben mir gesessen und mich auf ihre liebevolle Art ermuntert hatte, mir ein eigenes Leben aufzubauen, versetzte mir einen weiteren Stich ins Herz. Während ich bedrückt in die Dunkelheit hinausstarrte, ertappte ich mich dabei, wie ich mich fragte, ob diese ganze Reise vielleicht als eine Art Bestrafung gedacht war, weil ich sie so schlecht behandelt hatte. Vielleicht würde Gott das Flugzeug zum Abstürzen bringen, um mir eine Lektion zu erteilen. Oder er ließ zu, dass ich es bis nach Siena schaffte, um mich dann herausfinden zu lassen, dass jemand anderer mir den Familienschatz vor der Nase weggeschnappt hatte.
    Je länger ich darüber nachdachte, desto stärker wurde mein Verdacht, dass Tante Rose zu Lebzeiten nie darüber gesprochen hatte, weil das Ganze Blödsinn war. Vielleicht hatte sie am Schluss einfach den Verstand verloren, so dass sich der angebliche Schatz genauso gut als reines Wunschdenken entpuppen konnte. Und selbst wenn wider Erwarten tatsächlich etwas von Wert in Siena zurückgeblieben war, nachdem wir vor gut zwanzig Jahren das Land verlassen hatten, wie standen dann die Chancen, dass es sich noch dort befand? Wenn ich so die Bevölkerungsdichte in Europa und den Einfallsreichtum der Menschheit im Allgemeinen betrachtete, wäre es doch sehr überraschend, im Zentrum des Labyrinths noch ein Stück vom Käse zu finden, wenn - oder falls - ich irgendwann bis dorthin vordrang.
    Während des langen, schlaflosen Flugs baute mich nur ein einziger Gedanke auf: dass ich mich mit jedem Minidrink, den mir das lächelnde Bordpersonal reichte, ein Stück weiter von Janice entfernte. Bestimmt tanzte sie gerade in dem Haus herum, das nun ganz allein ihr gehörte, und lachte über mein Unglück. Sie hatte keine Ahnung, dass ich nach Italien reiste, keine Ahnung, dass unsere arme alte Tante Rose mich auf Schatzsuche geschickt hatte. Wenigstens darüber konnte ich froh sein. Denn falls bei meiner Reise nichts Brauchbares herauskam, zog ich es definitiv vor, dass sie nicht zur Stelle war, um über mich zu triumphieren.
     
    Bei unserer Landung in Frankfurt hieß uns fast so etwas wie Sonnenschein willkommen, so dass ich in Flip-Flops von Bord schlurfte. Meine Augen waren vom vielen Weinen geschwollen, und in meinem Hals steckte noch ein Stück Apfelstrudel. Der Anschlussflug nach Florenz ging erst in zwei Stunden. Sobald ich am entsprechenden Gate angekommen war, streckte ich mich auf drei Stühlen aus, schob mir meine Makramee-Handtasche unter den Kopf und schloss die Augen. Falls jemand mit dem restlichen Gepäck abhaute, war mir das egal. Ich fühlte mich viel zu müde, um mir deswegen Gedanken zu machen.
    Irgendwo zwischen Schlafen und Wachen spürte ich plötzlich, wie eine Hand über meinen Arm strich.
    »Ahi, ahi ...«, sagte eine Stimme, die nach einer Mischung aus Kaffee und Rauch klang, »mi scusi'. «
    Als ich die Augen aufschlug, sah ich, dass neben mir eine Frau saß und hektisch Brösel von
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