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Julia

Julia

Titel: Julia
Autoren: Anne Fortier
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die Leute von Siena über nichts anderes reden als über Pferde und Rivalen und Verträge mit dem einen oder anderen Jockey.« Sie schüttelte begeistert den Kopf. »Wir nennen es eine dolce pazzia ... einen süßen Wahnsinn. Wenn man ihn erst einmal spürt, will man nie wieder weg.«
    »Umberto hat immer gesagt, Siena lasse sich nicht erklären«, antwortete ich. Plötzlich wünschte ich, er wäre auch da und könnte dieser faszinierenden Frau zuhören. »Man müsse dort sein und die Trommeln hören, um es verstehen zu können.«
    Eva Maria lächelte so huldvoll wie eine Königin, die gerade ein Kompliment entgegennahm. »Er hat recht. Man muss es fühlen ...« - sie berührte mich mit einer Hand an der Brust -»und zwar da drin.« Bei jeder anderen Person wäre mir diese Geste höchst unangebracht erschienen, aber Eva Maria war die Sorte Frau, die sich so etwas leisten konnte.
    Während die Stewardess uns Champagner nachschenkte, erzählte mir meine neue Freundin mehr über Siena. »Damit Sie nicht in Schwierigkeiten geraten«, meinte sie augenzwinkernd. »Touristen geraten immer in Schwierigkeiten«, fuhr sie fort. »Sie begreifen nicht, dass Siena nicht einfach Siena ist, sondern aus siebzehn unterschiedlichen Vierteln - oder contrade - besteht, die alle ihr eigenes Gebiet, ihre eigene Gerichtsbarkeit und ihr eigenes Wappen haben.« Eva Maria stieß verschwörerisch mit mir an. »Wenn man nicht weiß, wo man ist, braucht man sich nur die kleinen Porzellanschilder an den Hausecken anzusehen. Sie verraten einem, in welcher Contrade man sich gerade befindet. Ihre Familie, die Tolomeis, gehören zur Contrade der Eule, und Ihre Verbündeten sind der Adler und das Stachelschwein und ... die anderen habe ich vergessen. Für die Leute von Siena dreht sich das Leben um diese Contrade, diese Stadtteile. Sie sind deine Freunde, deine Gemeinschaft, deine Verbündeten, aber auch deine Rivalen. Jeden Tag des Jahres.«
    »Meine Contrade ist also die Eule«, wiederholte ich amüsiert, weil Umberto mich hin und wieder eine missmutige Eule genannt hatte, wenn ich schlechter Laune war. »Und wie heißt Ihre Contrade?«
    Zum ersten Mal seit Beginn unseres langen Gesprächs wandte Eva Maria den Kopf ab. Meine Frage hatte sie aus dem Konzept gebracht. »Ich habe keine Contrade«, antwortete sie schließlich verächtlich. »Meine Familie wurde schon vor vielen Jahrhunderten aus Siena verbannt.«
     
    Lange bevor wir in Florenz landeten, beharrte Eva Maria darauf, mich nach Siena zu fahren. Es liege direkt an der Strecke in das Orcia-Tal, wo sie zu Hause sei, erklärte sie mir, so dass ihr das keinerlei Umstände bereite. Ich antwortete, dass es mir nichts ausmache, den Bus zu nehmen, aber sie hielt offensichtlich nicht viel von öffentlichen Verkehrsmitteln. »Dio santo!«, rief sie, weil ich mich weiterhin weigerte, ihr Angebot anzunehmen, »warum wollen Sie denn unbedingt auf einen Bus warten, der nie kommt, wenn Sie genauso gut mich begleiten und dabei höchst bequem im neuen Wagen meines Patensohnes mitfahren können?« Als sie merkte, dass sie mich fast so weit hatte, lächelte sie charmant und beugte sich zu mir herüber, um das letzte, entscheidende Argument vorzubringen: »Giulietta, ich wäre so enttäuscht, wenn wir unser nettes Gespräch nicht noch ein bisschen länger fortsetzen könnten.«
    Also gingen wir Arm in Arm durch den Zoll. Der Beamte warf nur einen kurzen Blick auf meinen Pass, dafür aber zwei lange auf Eva Marias Dekollete. Als ich kurz darauf einen Stapel bonbonfarbener Formulare ausfüllen musste, um mein Gepäck als vermisst zu melden, blieb Eva Maria neben mir stehen und klopfte so lange mit dem Absätzen ihrer Gucci-Pumps auf den Boden, bis der Mann hinter dem Schalter hoch und heilig schwor, sich persönlich um meine beiden Koffer zu kümmern, wo auch immer sie gelandet sein mochten, und sie - egal, um welche Uhrzeit - schnurstracks nach Siena zu fahren und im Hotel Chiusarelli abzugeben. Es hätte nur noch gefehlt, das Eva Maria ihm die Adresse mit Lippenstift notiert und in die Tasche geschoben hätte.
    »Sehen Sie, Giulietta«, erklärte sie, während wir gemeinsam aus dem Flughafen traten. Sie selbst rollte nur ihr kleines Handgepäck vor sich her. »Es geht zu fünfzig Prozent um das, was die Leute sehen, und zu fünfzig Prozent um das, was sie zu sehen glauben. Ah!« Aufgeregt winkte sie zu einer schwarzen Limousine hinüber, die auf der Feuerwehrzufahrt parkte. »Da ist er ja! Netter Wagen, nicht
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