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Julia

Julia

Titel: Julia
Autoren: Anne Fortier
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Schlimmes passieren könnte. Mein Problem war eher, nicht zu wissen, ob überhaupt etwas passieren würde. Es war durchaus denkbar, dass die ganze Reise in einer einzigen Enttäuschung enden würde. Gleichzeitig aber wusste ich, dass es nur eine einzige Person gab, die ich für die Klemme verantwortlich machen konnte, in der ich nun steckte: mich selbst.
    Ich war in dem Glauben aufgewachsen, dass ich eines Tages die Hälfte von Tante Roses Vermögen erben würde, und hatte daher gar nicht erst versucht, mir selbst eines zu erarbeiten. Während andere Mädchen mit sorgfältig manikürten Händen die rutschige Karriereleiter hinaufgekletterten, suchte ich mir nur Jobs, die mir Spaß machten - wie zum Beispiel als Betreuerin in Shakespeare-Sommerlagern -, weil ich genau wusste, dass früher oder später Tante Roses Erbe meine wachsenden Kreditkartenschulden ausgleichen würde. So kam es, dass ich nun ziemlich mies dastand, abgesehen von einem ominösen Erbe in einem weit entfernten Land - die Hinterlassenschaft einer Mutter, an die ich mich kaum erinnern konnte.
    Nachdem ich mein Studium abgebrochen hatte, war ich nirgendwo richtig sesshaft geworden, sondern hatte bei diversen Freunden aus der Antikriegsbewegung auf der Couch geschlafen, bis ich mal wieder einen Shakespeare-Job ergatterte. Aus irgendeinem Grund waren die Stücke des Barden das Einzige, was sich je in meinem Kopf festsetzte - und sooft ich es auch las, bekam ich einfach nie genug von Romeo und Julia.
    Hin und wieder unterrichtete ich Erwachsene, viel lieber aber Kinder und Jugendliche, vielleicht, weil ich mir ziemlich sicher war, dass sie mich mochten. Man merkte das schon allein daran, dass sie immer von den Erwachsenen sprachen, als gehörte ich nicht zu dieser Spezies. Es machte mich glücklich, dass sie mich als eine der ihren akzeptieren, auch wenn ich durchaus begriff, dass das im Grunde kein Kompliment war. Es bedeutete nur, dass sie mich im Verdacht hatten, nie richtig erwachsen geworden zu sein, und dass ich sogar noch mit meinen fünfundzwanzig Jahren wie eine linkische Jugendliche rüberkam, die sich abmühte, die in ihrer Seele tosende Poesie zum Ausdruck zu bringen oder, noch öfter, zu verschweigen.
    Es erwies sich als wenig hilfreich für meine Karriere, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wie meine Zukunft aussehen sollte. Wenn mich jemand fragte, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, wusste ich nie, was ich antworten sollte. Sooft ich versuchte, mir mich selbst in fünf Jahren vorzustellen, sah ich nur eine große, schwarze Leere. In düsteren Momenten interpretierte ich diese bedrohliche Dunkelheit als Zeichen dafür, dass ich jung sterben würde und mir meine Zukunft nur deswegen nicht vorstellen konnte, weil ich keine hatte. Meine Mutter war jung gestorben, ebenso meine Großmutter - Tante Roses jüngere Schwester. Aus irgendeinem Grund meinte es das Schicksal nicht gut mit uns, so dass ich jedes Mal, wenn ich in Betracht zog, mich längerfristig festzulegen, sei es nun beruflich oder wegen meiner Wohnung, in letzter Sekunde einen Rückzieher machte, weil mich der Gedanke verfolgte, dass es mir sowieso nicht vergönnt sein würde, ein derartiges Projekt zu Ende zu bringen.
    Jedes Mal, wenn ich an Weihnachten oder im Sommer nach Hause zurückkam, bat Tante Rose mich unauffällig, doch lieber bei ihr zu bleiben, als weiterhin so ziellos vor mich hin zu leben. »Du weißt ja, Julia«, sagte sie dann, während sie abgestorbene Blätter von einer Zimmerpflanze zupfte oder einen Engel nach dem anderen an den Weihnachtsbaum hängte, »dass es dir jederzeit offen steht, für eine Weile hier zu bleiben. Dann könntest du in Ruhe darüber nachdenken, was du mit deinem Leben anfangen möchtest.«
    Doch auch wenn ich manchmal versucht war, ihr Angebot anzunehmen, wusste ich gleichzeitig, dass es nicht ging. Janice stand dort draußen auf eigenen Füßen, verdiente Geld mit ihrer Partnervermittlung und hatte sich eine schöne Wohnung mit Blick auf einen künstlichen See gemietet. Wäre ich wieder zu Hause eingezogen, hätte ich damit automatisch anerkannt, dass sie gewonnen hatte.
    Nun sah die Situation natürlich völlig anders aus. Zurück in Tante Roses Haus zu ziehen, stand für mich nicht mehr zur Debatte. Die Welt, die mir vertraut war, gehörte jetzt Janice, und mir blieb nur der Inhalt eines braunen Umschlags. Während ich in dem Flugzeug saß, ein weiteres Mal Tante Roses Brief las und aus einem Plastikbecher Wein trank, wurde
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