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Julia

Julia

Titel: Julia
Autoren: Anne Fortier
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mich entwickelt hatte, keineswegs teilte, aber zu wohlerzogen war, um seiner eigenen Meinung Ausdruck zu verleihen. Zumindest duldete er meine Anwesenheit in seinem Wagen, solange ich die angemessenen Grenzen von Bescheidenheit und Dankbarkeit nicht überschritt.
    »Ihre Familie, die Tolomeis«, fuhr Eva Maria fort, ohne auf die schlechten Schwingungen von vorne zu achten, »war eine der reichsten und mächtigsten Familien in der Geschichte von Siena. Sie waren Privatbankiers, müssen Sie wissen, und bekriegten sich stets mit meiner Familie, den Salimbenis. Es ging darum, wer in der Stadt den größten Einfluss hatte. Ihre Fehde nahm so schlimme Ausmaße an, dass sie gegenseitig ihre Häuser niederbrannten und die Kinder der Feindesfamilie in ihren Betten töteten - damals im Mittelalter.«
    »Sie waren Feinde?«, fragte ich dümmlich.
    »O ja, und zwar von der schlimmsten Sorte. Glauben Sie an Schicksal?« Eva Maria legte eine Hand auf meine und drückte sie. »Ich schon. Unsere beiden Häuser, die Tolomeis und die Salimbenis, hegten einen alten Groll, einen blutigen Groll... Wenn wir uns jetzt im Mittelalter befänden, wären wir beide uns längst an die Kehle gegangen. Wie die Capulets und die Montagues in Romeo und Julia.« Sie sah mich vielsagend an. »Zwei Häuser, beide gleich an Würdigkeit, beide in Siena, unsres Stückes Ort ... Kennen Sie das Schauspiel?« Zu überwältigt, um sprechen zu können, beschränkte ich mich auf ein Nicken, woraufhin sie mir beruhigend die Hand tätschelte. »Keine Sorge, ich bin zuversichtlich, dass Sie und ich mit unserer neuen Freundschaft endlich den alten Streit beilegen werden. Und deswegen ...« Mit einer abrupten Bewegung wandte sie sich ihrem Patensohn zu. »Sandro! Ich verfasse mich darauf, dass du für Giuliettas Sicherheit in Siena sorgst. Hast du mich verstanden?«
    »Miss Tolomei«, antwortete Alessandro, der den Blick weiter auf die Straße gerichtet hielt, »wird niemals irgendwo sicher sein. Vor niemandem.«
    »Was ist denn das für ein Gerede?«, schalt ihn Eva Maria. »Sie ist eine Tolomei. Es ist unsere Pflicht, sie zu beschützen.«
    Alessandro betrachtete mich im Rückspiegel. Ich hatte allmählich den Eindruck, dass er viel mehr von mir sah als ich von ihm. »Vielleicht will sie unseren Schutz ja gar nicht.« An seinem Ton merkte ich, dass das eine Herausforderung war, und ich merkte auch - trotz seines Akzents -, dass er meine Sprache hervorragend beherrschte. Was bedeutete, dass seine Einsilbigkeit mir gegenüber andere Gründe haben musste.
    »Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Mitfahrgelegenheit«, entgegnete ich mit meinem süßesten Lächeln, »zweifle jedoch nicht daran, dass es sich bei Siena um eine sehr sichere Stadt handelt.«
    Er nahm das Kompliment mit einem leichten Nicken entgegen. »Was führt Sie denn zu uns? Sind Sie beruflich hier oder zum Vergnügen?«
    »Nun ja ... zum Vergnügen, würde ich sagen.«
    Eva Maria klatschte begeistert in die Hände. »Dann müssen wir unbedingt dafür sorgen, dass Sie nicht enttäuscht werden! Alessandro kennt sämtliche Geheimnisse von Siena. Nicht wahr, caro? Er wird Ihnen alle Orte zeigen, wundervolle Orte, die Sie allein nie finden würden. Oh, das wird Ihnen Spaß machen!«
    Ich öffnete den Mund, aber da ich nicht so recht wusste, was ich sagen sollte, klappte ich ihn gleich wieder zu. Alessandros gerunzelte Stirn verriet ganz deutlich, was er von dem Vorschlag hielt, für mich den Fremdenführer zu spielen. Auf seinem Programm für diese Woche kam dieser Punkt definitiv an allerletzter Stelle.
    »Sandro!« Eva Marias Stimme klang plötzlich scharf. »Du wirst doch dafür sorgen, dass Giulietta sich amüsiert, oder?«
    »Ich kann mir kein größeres Glück vorstellen«, sagte Alessandro und schaltete das Autoradio ein.
    »Sehen Sie?« Eva Maria kniff in meine gerötete Wange. »Was weiß Shakespeare schon? Jetzt sind wir Freunde.«
    Draußen war die Welt ein einziger Weinberg, und der Himmel hing wie ein schützender blauer Umhang über der Landschaft. Hier war ich geboren, und trotzdem fühlte ich mich völlig fremd - als hätte ich mich wie ein Eindringling durch die Hintertür hereingeschlichen, um etwas zu suchen und zu fordern, das mir nie gehört hatte.
     
    Ich war froh, als wir endlich vor dem Hotel Chiusarelli zum Stehen kamen. Eva Maria war während der ganzen Fahrt mehr als freundlich gewesen und hatte mir einiges über Siena erzählt, aber nachdem ich die ganze Nacht nicht geschlafen
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