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Jimmy, Jimmy

Jimmy, Jimmy

Titel: Jimmy, Jimmy
Autoren: Mark O'Sullivan
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klingt schmeichelnd, nach Verzeihung.
    »Jimmy?«
    Ich folge ihr in die Stille. Ich war noch nie in Mrs Caseys Haus. Es ist wie ein großes Spiegelbild von unserem, aber es wirkt älter, viel älter. Das Alter hat es dunkelbraun gefärbt. Die Türen, die Tapeten, den Läufer auf der Treppe, alles. Es riecht auch alt. Es ist nicht schmutzig, aber abgewohnt, verstaubt. Sean geht langsam von Tür zu Tür bis zum Wohnzimmer. Dann dreht er sich zu Mam um undschüttelt den Kopf. Sie beginnt, die Treppe hinaufzusteigen. Wir hören das Klacken eines Lichtschalters im ersten Stock. Es hat nah geklungen. Ich bin ein paar Stufen hinter Mam. Ich kann die Spannung in ihren Wadenmuskeln sehen, obwohl sie sich scheinbar nicht anders bewegt als sonst.
    »Alles okay, Jimmy«, sagt sie mit fester, aber freundlicher Stimme. »Ich bin’s, Judy.«
    Oben angekommen, halten wir inne. Aus dem Zimmer, dessen Tür wir am nächsten sind, kommt kein Laut. Mam drückt die Klinke herunter. Ich hätte erwartet, dass die Tür abgeschlossen oder irgendwie blockiert ist, aber sie ist es nicht. Ich kann nichts sehen, und Sean, der uns gefolgt ist, auch nicht.
    »Was tust du hier, Jimmy?«, flüstert Mam, und seine ebenfalls geflüsterte Antwort kann ich nicht verstehen.
    Mam betritt das Zimmer, und erst sehe ich nicht ihn, sondern Mrs Casey. Ihren Kopf, der winzig klein auf dem Kopfkissen ihres Bettes liegt. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Mund steht offen, kein Atem hebt und senkt ihre Brust. Puppen werden nie alt, aber wenn sie es würden, sähen sie so aus. Mam tritt näher ans Bett, und jetzt sehe ich ihn auch. Er sitzt mit hängenden Schultern auf der Bettkante und hält Mrs Caseys Hand.
    »Was ist passiert, Jimmy?«, fragt Sean, in dessen Stimme zu viel Angst liegt, als dass er flüstern könnte.
    Mrs Casey zuckt und gibt Geräusche von sich wie jemand, der träumt. Als sie den Kopf bewegt, sehe ich einen blauen Fleck auf einem ihrer Wangenknochen. Er ist fast violett. Sie liegt wieder still, und Jimmy hebt den Kopf und reibt sich mit der freien Hand den Nacken. Er ist vollkommenerschöpft, seine schweren Augenlider wehren sich gegen die Müdigkeit.
    »Jedes Mal wenn ich ihre Hand loslasse, wacht sie auf, verdammt«, sagt er. »Sie lässt mich nicht den Arzt rufen.«
    Mam lässt ihn ein Stück beiseiterücken, befreit seine Hand und übernimmt dann seinen Platz. Sie misst Mrs Caseys Puls.
    »Warum braucht sie denn einen Arzt, Jimmy?«, fragt sie.
    Er rutscht noch ein bisschen weiter Richtung Fußende und knetet seine Hand, die offenbar eingeschlafen ist.
    »Sie ist hingefallen«, sagt er. »Ich hab sie an der Hintertür gefunden und musste sie hier hochtragen. Aber sie wollte mich nicht den Arzt anrufen lassen. Sie wollte sich schminken, aber sie hat immer so geweint, und davon ist die Schminke wieder abgegangen. Die Polizei sperrt mich jetzt nicht ein, oder?«
    »Warum sollten sie dich einsperren?«, sagt Mam. »Du hast doch nichts Falsches getan, oder?«
    »Nein«, sagt er. »Ich glaub nicht.«
    »Warum bist du hier rübergegangen, Jimmy?«, frage ich ihn.
    »Als ich im Garten war, hab ich sie weinen gehört. Ihr nicht?«
    An der Wand gegenüber dem Fußende des Bettes steht eine große Kommode. Auf ihr stehen vielleicht ein Dutzend gerahmte Fotos: alte Schwarz-Weiß-Fotos von einem Hochzeitspaar, von zwei jungen Leuten auf einer karierten Decke am Strand, vom selben Paar in Abendkleidung, er mit Fliege, sie mit einem Diadem. Alle anderen Fotos zeigen ihn allein. Er wird nur ein paar Jahre älter, bevor die Reihe der Bilder endet.
    »Sean«, sagt Mam. »Geh und ruf das Krankenhaus an!«
    »Aber sie will nicht«, sagt Jimmy. »Sie wird böse mit dir, Judy.«
    »Wir bringen’s ihr schonend bei«, sagt Mam.
    Sie lässt Mrs Casey los, legt ihr die Hand auf die Stirn und hebt die Decke an, um ihre zerbrechlichen Knochen nach weiteren Verletzungen abzutasten. Nicht weit von der Hüfte ist ein kleiner Blutfleck auf dem Nachthemd. Von draußen hört man Seans Stimme. Er spricht leise, aber eindringlich. Dann wacht Mrs Casey auf. Sie schaut Mam an, erst verwirrt, dann ängstlich. Ihr Blick huscht an mir vorbei, als gäbe es mich gar nicht, und bleibt an Jimmy hängen. Ihre Augen beginnen zu leuchten.
    »Raymond«, sagt sie.
    »Oh, Mist«, murmelt Jimmy leise. »Das wieder.«
    Er sieht überhaupt nicht wie der blonde Mann auf den Fotos aus. Und ihm ist unbehaglich, weil ihn Mam jetzt auch anschaut. Liebe sieht in allen Gesichtern gleich aus, ganz
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