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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord
Autoren: Judith Merchant
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Prolog
    A ls sie wieder zu sich kam, war es dunkel. Nässe kroch ungehindert durch ihr wollenes Kostüm, und kurz dachte sie an die Reinigung und daran, was sie wieder einmal kosten würde. Sie konnte nicht wissen, dass ihr der Ärger darüber erspart bleiben würde.
    Der Boden, auf dem sie lag, war hart und sandig, aber draußen befand sie sich nicht, denn das Prasseln des Regens klang gedämpft. Und da war noch etwas. Sie lauschte. Plätscherndes Wasser. Das Gurgeln eines Baches.
    Sie versuchte, etwas zu sagen. Ein gutturales Stöhnen hallte durch den kleinen Raum, vielfach zurückgeworfen. Es klang so fremdartig, dass es unmöglich von ihr stammen konnte. Plötzlich zuckte eine Erinnerung durch das Dunkel wie ein Blitz, und sie wusste, wo sie war.
    Die Drachenhöhle. Sie war hier gefangen, ein ungerufener, fremder Fötus im steinernen Bauch dieses bösen alten Berges.
    Die Höhle maß vielleicht sechs mal vier Meter, man konnte aufrecht darin stehen, und die Wände waren hart und rauh. Das wusste sie, weil sie schon einmal hier gewesen war. Damals war sie staunend ringsum gegangen und hatte einen zweiten Ausgang, eine Spalte, irgendetwas gesucht, aber da war nichts gewesen außer der undurchdringlichen Wand aus Tuffgestein, jahrtausendealt, geformt aus der erstarrten Asche längst erloschener Vulkane.
    Jetzt konnte sie nicht mehr ringsum gehen, denn ihre Schädeldecke war zerschmettert, aber das ahnte sie nicht, denn sie spürte keinen Schmerz.
    Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Da war etwas gewesen, etwas, das sie nicht vergessen durfte. Sie suchte jemanden, nur wen? Hier in der Höhle war niemand. Oder doch?
    Sie horchte.
    Da war etwas.
    Ein dumpfes Grollen, das den Boden vibrieren ließ, noch ehe es auf ihr Trommelfell traf.
    Der Drache. Das musste der Drache sein.
    Natürlich, dachte die Frau und roch das Blut. Die Pfütze, in der sie lag, war Blut, ihr eigenes, und der Geruch, süß und metallisch, musste dem Drachen in die Nase gestiegen sein. Er war aus seinem tausendjährigen Totenschlaf erwacht und hatte seine Schlafstätte tief unter dem Berg verlassen, um nach ihr zu suchen.
    In ihr war keine Angst, als er näher kam. Seine Kälte ging ihm voraus, drang durch die felsigen Wände und ließ die Frau frösteln.
    Vermutlich sind Drachen Reptilien, überlegte sie. Wechselwarm. Er bringt die Kälte mit, die tief unter dem Berg herrscht, bald werde auch ich so kalt sein.
    Etwas in ihr wehrte sich, ein vages Erinnern ließ sie gegen den Tod aufbegehren. Es gab irgendjemanden, den sie vor diesem Drachen schützen musste, doch wer war es?
    Kaum tauchte die Frage im warmen Nebel ihres Bewusstseins auf, erschienen weitere. Wie war sie in diese Höhle gelangt? Wen hatte sie gesucht? Und was hatte sie gefunden?
    Drache, bitte tu mir nichts, dachte sie, und ihre Hände schlossen sich wie zu einem Gebet. Konnte sie überhaupt etwas sehen, hier, in dieser dunklen Höhle?
    Sie konnte.
    Ihr Blick, der vorher nur Hell und Dunkel unterschieden hatte, wurde plötzlich klar.
    Etwas näherte sich ihr, groß und gewaltig.
    Und erst als ihr Herz einen letzten schweren Schlag tat, erkannte sie, dass es der Drache war.
    Er war da.
    Und er war wunderschön.

Der erste Tag
Noch weiz ich an im mêre daz mir ist bekant:
einen lintrachen den sluoc des heldes hant.
er bádete sich ín dem bluote; sîn hût wart húrnîn.
des snîdet in kein wâfen. daz ist dicke worden schîn.
 
Ich weiß noch mehr von Siegfried zu berichten:
Nämlich, dass er mit eigener Hand einen Drachen erschlug.
Er badete in seinem Blute, seine Haut wurde zu Horn,
nun kann keine Waffe ihn mehr verletzen.
 
 
    I rgendwo hinter der grünlackierten Tür im Inneren des Hauses erklang ein melodischer Klingelton.
    Janina Scholz wartete. Sie war es gewohnt zu warten. Bei den meisten alten Leuten dauerte es eine Weile, ehe sie an die Tür kamen. Sie nestelte ihre Perlenkette zurecht – Perlen versprachen Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, und das war genau der Eindruck, den sie hinterlassen wollte – und fuhr sich noch einmal durch den silberblonden Pagenkopf.
    »Ja bitte?« Die Stimme klang dünn und zittrig. Eine echte Oma-Stimme.
    Janina näherte ihren Mund der Gegensprechanlage und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. Sie wusste, dass man ihrer Stimme anhörte, wenn sie lächelte. Sie hatte sich coachen lassen müssen, ehe sie anspruchsvolle Fälle wie diesen übernehmen durfte. »Scholz ist mein Name, vom Gerlinde-Bauer-Haus, wir hatten telefoniert. Kann ich
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