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Jesuslatschen - Größe 42

Jesuslatschen - Größe 42

Titel: Jesuslatschen - Größe 42
Autoren: Rüdiger Paul
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Gabi
zwar ständig an, sie aber blickt stets haarscharf an mir vorbei in Richtung
Unendlichkeit. Nur zufällig streift mich ein Blick, welcher mich aber nicht
wirklich trifft. Leise setzt sich der Zug in Bewegung. Ab jetzt wird gepilgert, Rüdi ! Großklappe, ich weiß gar nicht wie das geht.
    Tom Waits ’ „ Downtown Train“ fährt in die Dämmerung hinein. Unbeweglich
sitze ich hier und bewege mich doch im Eiltempo, innerlich etwas aufgewühlt,
auf ein kleines Abenteuer zu. Immer wieder das eine Bild aus dem Pilgerführer
im Kopf, auf dem man sieht, wie ein Pilger den Strand von La Arena an der Biscaya -Küste erreicht. Genau dort zu sein, mit dem Blick
auf das Meer, weckt Reiselust. Die Küste bringe ich in Verbindung mit dem „Kap
Finisterre“, dem Ende der Welt. Dieses Kap, etwa sechzig Kilometer von Santiago
de Compostela entfernt, wurde über Jahrhunderte für das Ende der Welt gehalten.
Genau dort endet traditionsgemäß die Pilgerreise. Für mich beginnt sie heute.
    Das eine Bild aus dem Büchlein von M. Kasper,
lässt in meinen Gedanken eine Handlung entstehen. So reifen Vorstellungen und
Vorfreuden auf das Kommende.
    Spanien habe ich mich schon auf verschiedenste
Weise genähert. Sei es durch einen längeren Arbeitsaufenthalt in Andalusien
oder durch verschiedene Urlaubsreisen. In Cadaques ,
der Wahlheimat des spanischen Malers Salvador Dalí, haben Gabi und ich die
Lebensart der Katalanen besonders zu schätzen gelernt. Nur hier hat man die
Möglichkeit Dalí's Bilder in Natur zu sehen, sie zu fühlen
und sie in der Fantasie über die Landschaften zu legen.
    Traditionelle Gewohnheiten der Menschen, die
Gelassenheit im Alltag und eine scheinbare Zeitlosigkeit, zeugen von einer
bewussten Menschlichkeit.
    Ganz vertraut hat Gabi mir ein kleines rotes
Päckchen mit auf den Weg gegeben. Das in Seidenpapier schlummernde Geheimnis
soll erst unterwegs gelüftet werden. Nun wähne ich mich weit genug in der Welt
und scheinbar unbehelligt von anderen Fahrgästen. Sehr vorsichtig ziehe ich das
papierumwickelte Etwas aus der Tasche und beginne es zu erkunden. Die Gabe ist
flach, länglich und fühlt sich für die Größe schwer an. Viel kann ich mit den
ertasteten Informationen nicht anfangen. Also müssen die Hüllen fallen.
    Ein marmorgraues Schwert, ein roter Brief, und
eine goldene Walnuss kommen zum Vorschein. Ich bin überrascht, dass auch Gabi
meinen Traum aufnimmt und mich somit bei der Suche nach dem Schwert, auf ihre
Art, unterstützt. Dieses Symbol meiner Reise hat sie garantiert mit viel
Fantasie und Liebe selbst gefertigt. Die goldene Nuss klappert sehr
geheimnisvoll. Etwas hat Gabi im Inneren der Nuss versteckt. Beide Hälften sind
fest verklebt und mit Goldfarbe angestrichen. Beim genauen Betrachten hat die
Oberfläche der Nuss eine ähnliche Struktur wie das menschliche Gehirn.
Rätselhaft? Laut beigefügtem Brief soll deren Inhalt helfen, aufkommende
Langeweile zu unterdrücken. Geknackt wird diese Rätselnuss von mir wirklich
nur, wenn unterwegs die grüne Langeweile aufkommt. Eins weiß ich aus Erfahrung,
pure Neugier auf den Inhalt löst das Geheimnis der „Goldenen Nuss“ nicht. Ein
Nussknacker ist gewiss fehl am Platze. Die Nuss, der rote Brief und das Schwert
wandern behutsam zurück in die Tasche und lassen mich in Gedanken versinken.
    Draußen ist es stockdunkel. Der Zug fährt
bereits von Frankfurt in Richtung Köln. Lichtreklamen von Hotels, Autohäusern,
Vorstadt-Supermärkten und kleinere Bahnhöfe ziehen am Fenster vorbei oder
spiegeln sich in der Scheibe. Vom Bahnhof Montabaur bleibt ein Bild haften.
Dort stehen zwei ältere Paare, wartend auf dem Bahnsteig. Im Hintergrund eine
„OBI Leuchttafel in knallorange und zwei Scheinwerfer als Augen in dieser alle
Farben verschlingenden Dunkelheit. „OBI“ als Nachwendesynonym für Baumarkt und
Aufbau. Die vier Menschen stehen dort stellvertretend als Verwandte. Ohne
Grenzen und Mauern. Das Gefühl Wiedersehen und Abschied ist mir in der Kindheit
besonders auf Bahnöfen ins Bewusstsein gelangt. Der
einfahrende Interzonenzug, als Objekt des Wartens, war damals in meiner
Fantasie ein Buch mit sieben Siegeln. Lange noch rauschen meine Gedanken durch
den Westerwald. Bilder und Begebenheiten der Nachwendezeit mischen sich mit der
Jetztzeit, keinen Augenblick möchte ich missen. Während dieser Nachtfahrt mache
ich noch mit den modernen Fahrensleuten im ICE
Bekanntschaft, welche, kaum dass sie den Waggon betreten haben, nach
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