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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
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dass Dora nicht krank ist. Auf gar keinen Fall. Nie in ihrem Leben ist sie krank gewesen. Sie hat einfach keine Angst. Schlicht und ergreifend, würde ihre Mama sagen. Sie sagt das oft: schlicht und ergreifend. Das ist so etwas wie ein Kennwort, ein Erkennungszeichen. Wie bei den sieben jungen Geißlein der weiße Fuß der Mutter. Dora findet es lustig, manchmal zählt sie, wie oft am Tag ihre Mutter das sagt. Mama macht dann ganz große Augen und schüttelt ein wenig den Kopf. Es ist tatsächlich lustig. Dora mag ihre Mutter. Und Luka. Aber es ist ganz anders. Dora hat früh verstanden, dass man – schlicht und ergreifend – auf völlig verschiedene Art und Weise mögen kann.
    Und Luka mag Dora. Er findet alles an ihr toll. Er wünscht sich oft, sie wäre seine Schwester, denn so könnten sie immer zusammen sein, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Das wäre klasse, so eine Schwester. Aber vielleicht auch nicht. Manchmal ist sich Luka unsicher, denn er hat manchmal ein Gefühl oder auch mehrere, die ihm völlig unbekannt sind, die ihm sogar Angst machen, und wenn sie ihn überfallen, dann ist er froh, dass er nach Hause laufen kann, wo keine Dora ist und alles klar und vertraut und einfach ist. Er legt sich dann auf sein Bett und versucht an etwas anderes zu denken als an Dora, aber vergeblich. Sie ist immer da, in seinem Kopf, er sieht ihr kleines Gesicht, ihre großen Augen, hört sie lachen und erzählen, sie kann endlos viel erzählen, und schon vermisst er sie, steht auf, läuft aus dem Haus und sucht sie. Und findet sie immer. Um sich dann mit ihr ins Krankenhaus hineinzuschleichen, das sich im Kloster, so einer Art Kirche, befindet, denn Dora mag den Geruch und die hohen Decken im Warteraum. Sie setzen sich und tun eine Zeit lang so, als würden sie auf den Arzt warten oder auf ihre Eltern, aber jeder kennt sie schon, und meistens lässt man sie in Ruhe, nachdem man sie angelächelt hat. Denn sie grüßen immer höflich. Einmal hat Dora ihm den Raum gezeigt, in dem sie geboren wurde. Toll! Sie teilt alles mit ihm. Wie eine wahre Freundin eben.
     
    »Warte auf mich!«
    Ihre Schritte können nicht mithalten, er hört sie hinter sich. Wie ein kleiner Hund. Dora rennt immer noch nicht. Sie weigert sich einfach, Luka kann sie nicht dazu bringen. Es ist ihm ein Rätsel. Dora ist ihm auch ein Rätsel, obwohl er niemanden besser kennt als sie. Er weiß alles über sie. Alles. Was er nicht persönlich miterlebt, erzählt sie ihm. Was sie ihm nicht erzählt, spürt er. Dora ist ein Teil von ihm, wie sein Bein oder sein Haar. Seine Lunge. Deswegen darf er nicht an den September denken. Denn das Leben könnte plötzlich aufhören, selbstverständlich zu sein. Und er könnte plötzlich vergessen zu atmen.
    »Warte auf mich!«
    Dora eilt. Aber ihre Schritte haben keine Chance, Luka zu erreichen. Die Steine unter ihren Füßen knirschen. Ihre Augen fangen an zu brennen. Sie verbietet sich zu weinen. Sie droht sich selbst die grausamsten Strafen an, sollte sie auch nur eine Träne loslassen. Sie wird nie mehr Eis essen dürfen. Oder Schokolade. Oder mit Luka ins Partizan gehen, ins Sommerkino. Und das wäre schade, denn es kommen noch einige gute Filme, die sie unbedingt sehen muss. Mit ihrer Lieblingsschauspielerin Elizabeth Taylor. Sie ist die schönste Frau der Welt! Oder sie wird kein gutes Buch mehr lesen dürfen. Oder …
     
    »Warum weinst du?«
    Luka bekommt immer eine Riesenangst, wenn Dora weint. Er schwitzt. Er wischt sich mit dem nackten Unterarm über die Stirn. Alles klebt. Sein Blick rast von Doras Kopf bis zu ihren Füßen. Wenige Schritte nur trennen sie vom Felsen. Der Leuchtturm ist schon hinter ihnen. Es sind keine Menschen in der Nähe. Nur das Meer kann man hören.
    »Ich weine gar nicht.«
    Aber Luka kann ihre Tränen ganz klar und deutlich sehen.
    »Tust du doch!«
    »Tu ich nicht!«
    Sie schreien sich an wie zwei streitende Vöglein. Dora verschränkt die Arme vor der Brust und sieht ihn zornig und verletzt an. Lukas Arme hängen neben seinem schlaksigen Körper, und er hat nur ein Ziel, nämlich nicht zu denken.
    »Warum sind deine Augen dann so nass?«
    »Sind sie nicht!«
    »Doch, sind sie, ganz schrecklich nass, nasser als ich nach dem Training.«
    »Du lügst, du lügst! Das ist nur der Schweiß!« Und sie reibt sich mit beiden Händen das Gesicht, sie will überhaupt nicht mehr aufhören, ihre Hände bewegen sich immer schneller, sie drücken immer kräftiger …
    »Hör auf, du wirst dir
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