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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
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du noch?«
    »Und du?«

1
    Luka erblickt die Welt mit einem leisen, halbherzigen Schrei und wird dann ganz still, als er das Wasser auf seiner Haut spürt. Man schreibt das Jahr 1959 in Makarska, einer kleinen ruhigen Hafenstadt in Kroatien. Die Hebamme Anka, die gleichzeitig auch die Nachbarin der Familie ist und somit nicht lange gebraucht hat, um auf die panischen Rufe des künftigen Vaters zu antworten, überprüft drei Mal, ob alles gesund und vollzählig ist, und denkt: Was für ein sonderbares Kind. Sie schüttelt leicht den Kopf. Was wird bloß aus ihm werden, so still und nachdenklich, als wäre er achtzig Jahre alt und hätte die Welt schon gesehen. Und doch blind wie ein Kätzchen. Lukas erschöpfte Mutter fragt besorgt, ob mit dem Kind auch bestimmt alles in Ordnung sei, warum es denn nicht mehr weine. Die Hebamme beruhigt sich selbst, indem sie Antica, der Mutter – mit der sie schon unzählige Liter starken türkischen Kaffee getrunken hat -, antwortet, alles sei bestens, sie solle sich jetzt erholen und schlafen und Kräfte sammeln für später, für ihren kleinen Sohn, ein großer Bursche sei das, man werde noch von ihm hören. Die Mutter verlangt nach ihm. Sie will ihn halten. Er heiße Luka, sagt sie stolz und ein wenig verlegen. Die Hebamme weiß das schon und nickt zustimmend, man könne es sofort erkennen, dass das hier ein richtiger Luka sei, und legt den stummen Jungen, dessen Augen weit geöffnet sind, als wären sie sein einziges Fenster zur Welt, in die Arme seiner Mutter. Ein blindes Kätzchen, denkt sie dabei wieder. Augenblicklich schlafen beide ein. Mutter und Sohn. Es ist ein warmer Novembertag. Windstill und heiter. Ein Winter, der noch kein Winter ist.
     
    Luka ist drei Jahre alt. Sein Vater Zoran nimmt ihn zum ersten Mal mit zum Fischen. Er hat ein kleines Boot, das Luka sein Eigen nennt. Dann lächelt Zoran immer und zwinkert Lukas Mutter zu. Sie lächelt dann auch. Der Vater nimmt Lukas Hand in seine, und sie gehen zum Hafen. Mit der rechten Hand hält sich Luka an seinem Vater fest. In der linken Hand trägt er eine kleine Tasche, in der sich eine Menge Buntstifte und sein Malblock befinden. Luka malt und zeichnet sehr gerne. Nirgendwohin geht er ohne diese Tasche. Heute will er vor allem fischen. Aber auch malen. Unterwegs begegnen sie vielen Menschen. Auf dem Kačić-Platz: Alle begrüßen sie, alle kennen sie und lächeln Luka an und fragen ihn, was er denn vorhabe. Luka kann vor Stolz kaum reden. »Fischen«, sagt er, zu laut, und versteckt die Maltasche hinter dem Rücken. Die Leute lachen. Einige wundern sich übertrieben, so ein kleiner Junge, das gehe doch nicht, das sei verboten. Luka schwankt zwischen Angst, man könnte es ihm verbieten, und Empörung darüber, dass man es wagt, die Entscheidung seines Vaters anzuzweifeln. Der macht aber nur ein ernstes Gesicht und drückt Lukas verschwitzte Hand: Alles ist in Ordnung, er muss sich keine Gedanken machen. Sie gehen weiter. Sie gehen immer weiter, die Riva entlang, wo Luka sich an der Meeresseite hält und ins Wasser schaut. Jeden Fisch begrüßt er mit einem leisen Aufschrei. Und so bis zum Boot. Es ist kein langer Weg für den Vater, aber für einen Dreijährigen ist es ein großer Ausflug. Die linke Hand tut ihm schon weh. Die Tasche ist schwer. So viele Stifte! Das Boot liegt ruhig zwischen anderen, genauso kleinen Booten. MA 38. Das Kennzeichen in roter Farbe. Fast alle Boote sind weiß mit einem dünnen blauen Strich rundherum. Oder sie sind ganz weiß. Luka kann schon das Boot seines Vaters erkennen. Er war schon Millionen Mal auf diesem Boot. Vielleicht sogar öfter. Nur fischen war er noch nie. Luka liebt das Meer und das Boot über alles. »Wenn ich groß bin, werde ich Seemann«, sagt er. Oder Fischer. Der Vater steigt leichtfüßig ins Boot. Er hebt Luka hoch über das Meer und stellt ihn neben sich ab. Das Boot ist zwar nicht groß, aber es hat eine kleine Kabine. Luka setzt sich. Er sieht seinem Vater dabei zu, wie er das Boot geschickt aus dem Hafen steuert. Luka wird einmal auch so wie sein Vater sein. Sie fahren Richtung offenes Meer. Zwischen den Halbinseln Sv. Petar und Osejava hindurch. Am Ende des Meeres, von dem aus er immer noch die übrig gebliebenen Steine der Kapelle Sv. Petar sehen kann – das war das Erdbeben, es war schlimm, das ganze Haus hat gezittert und Mama hat geweint und Papa hat sie alle in den Keller gebracht, und es hat lange gedauert, länger als irgendetwas, das Luka kennt, und
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